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Über den Tod reden
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Wissen wollen, wie es ausgeht. Ein Sterbender erzählt

Seit vier Jahren lebt Matthias mit unheilbarem Lungenkrebs. Jetzt wirken die Medikamente nicht mehr. Der Tod klopft auf die Schulter. Worauf kommt es am Lebensende an? Wie dem Sterben begegnen? Wie die Hoffnung behalten?

Seite 2/2: Was tun, wenn die Kraft nicht mehr ausreicht? Wenn der Antrieb zum neuerlichen Aufstehen fehlt?

Hoffnung auf den Frühling

„Momentan ist die Erkrankung stabil“, sagt Matthias, „aber ich bin schon sehr schwach.“ Meistens verbringt er die Tage auf der Couch, hin und wieder geht er in den Supermarkt, bereitet sich Essen zu, nur aktuell fehlt ihm auch dazu die Kraft. „Es ist schwer, den Antrieb zu finden.“ Jeden Tag hat er Fieberschübe, manchmal bis knapp an die 40 Grad.

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Matthias hofft ungebrochen auf weitere Durchbrüche der modernen High-Tech-Medizin, wie schon in den vergangenen vier Jahren seit der Diagnose. (Video/Audiomitschnitt: Kurvenkratzer/Alexander Greiner)

In Zeiten ohne Fieber- und Schweißattacken hätte er Lust, rauszugehen, Veranstaltungen zu besuchen. Die körperliche Schwäche zwingt ihn aber nach wenigen Treppenstufen zum Hinsetzen. „Normalerweise würde ich um diese Jahreszeit (Ende Februar, Anm.) schon schwimmen gehen“, sagt er, „aber ich würde nach ein paar Zügen untergehen.“ Er hofft auf baldiges warmes Wetter, das ihn vielleicht von der Couch holt.

„Ich glaube, dieses Jahr noch durchzuhalten, wäre sehr optimistisch gerechnet.“
– Matthias

Angst vor dem Sterben

In den vier Jahren seit der Diagnose denkt Matthias oft, dass es ewig gut gehen kann, mit immer neuen Medikamenten. Dass er nicht am Krebs sterben wird. „Vielleicht bleibt der Krebs unerwartet viel stabiler, als jeder denkt.“ Das ist sein Optimismus. Aber dann holt ihn der Realismus ein: „Es ist nur eine Sache auf Zeit. Das Ende wird kommen.“ Da die Medikamente momentan helfen, ist eine genaue Prognose schwer zu treffen.

„Einerseits wünscht man sich, möglichst lange zu leben, aber wenn es um das Sterben geht, wünsche ich mir, dass es möglichst schnell geht.“
– Matthias

Am meisten Angst hat Matthias vor Charakterveränderungen durch Hirnmetastasen. „Der Kontrollverlust, dass man nicht mehr man selbst ist, dass man sich komisch verhält, das kann viele Gesichter haben. Aggressionen, die überhaupt nicht zu mir passen.“ Er fürchtet, den Menschen falsch in Erinnerung zu bleiben, und überlegt, selbst ein Ende zu setzen. Mit der Familie ist das besprochen. „Das Klären der Suizidfrage ist auch Vorbereitung auf das Sterben. Dass es dann keine Diskussionen gibt über richtig oder falsch.“

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Die Patientenverfügung müsse praktischer in der Umsetzung werden. Deshalb hat Matthias keine aufgesetzt. (Video/Audiomitschnitt: Kurvenkratzer/Alexander Greiner)

„Auf jeden Fall ist mir wichtig, dass der Sterbeprozess nicht aufgehalten wird“, sagt Matthias. „Ich brauche keine Magensonde, keine künstliche Ernährung, aber ich will natürlich ausreichend Schmerzmittel bekommen am Ende.“ Er möchte zum Sterben in „sein Spital“, in dem alle Bescheid wissen, was er wünscht.

Lese-Tipp: Lebensretter Tod? Der wahrhaftigste Best Friend Forever – Patientenverfügung in Deutschland, Österreich und der Schweiz, sowie: Wie regle ich die letzten Dinge?

Was hilft beim Sterben?

Sich mit dem Sterben zu beschäftigen, „ist so eine Arbeit, die man einfach nicht machen möchte“, sagt Matthias. Er hat vor, Listen zusammenzustellen, wer informiert werden soll – und möchte alle Freund:innen schon jetzt persönlich anrufen. „Damit sie nicht die Nachricht bekommen, dass ich plötzlich gestorben bin, das wäre irgendwie blöd. Damit man noch ein vernünftiges Gespräch haben kann.“ Eine kräftezehrende Aufgabe, in der er von drei Seiten Halt bekommt: von der Selbsthilfegruppe, seiner Freundin und der Familie, und von der Offenheit.

Matthias pflegt seit der Diagnose vor vier Jahren einen sehr offenen Umgang mit dem Krebs und der unheilbaren Aussicht. „Es ist schwer, vor allem, weil ich mein Umfeld immer wieder schockieren muss“, sagt Matthias. „Ich weiß auch nie so recht, was ich den Leuten sagen soll, wenn ich grad wieder die Diagnose bekomme, dass ich bald sterben muss. Aber ich muss es sagen, weil ich ehrlich sein will. Sie trauern und leiden mit mir. Man ist traurig und die anderen sind auch traurig. Allen ist klar: Irgendwann wird es nicht mehr gehen. Man weiß aber nicht genau, wann.“

Matthias’ persönliches Umfeld ist die größte Stütze für ihn. „Meine Freundin ist sehr wichtig für mich“, sagt er. „Sie ist immer für mich da, das ist äußerst wichtig. Wenn ich sie nicht hätte, wär es extrem schwierig. Es ist wichtig, jemanden zu haben, mit dem man über das alles reden kann. Wünschte mir oft, sie damit nicht belasten zu müssen, aber es geht halt nicht anders.“ Auch von der Familie erhält er viel Hilfe. „Es ist immer jemand da. Einkäufe, Essen machen. Vater, Mutter, Brüder, zum Glück meine Freundin, alle sind in der Nähe.“

In der Selbsthilfegruppe für krebserkrankte Männer macht Matthias eine interessante Beobachtung: „Ich hatte erwartet, eher ältere Leute anzutreffen. Dort waren aber viele, die direkt aus dem Leben gerissen waren, die jung waren und den Alltag trotzdem weiter gestalten. Ich habe gesehen, dass es auch andere gibt, die es so früh trifft. Das war positiv. Sich auszutauschen ist eine sehr gute Erfahrung. Ich hoffe, bald wieder hingehen zu können, sich wiederzusehen, interessante Dinge zu diskutieren, die man mit anderen nicht besprechen kann: Sterben, assistierter Suizid. Die Gruppe ist ein geschützter Raum. Man wird nicht verurteilt. Es gibt niemanden, der sagt: Das kannst du nicht machen.“

„Bei der Diagnose dachte ich, ich werde wohl nie wieder glücklich sein. Wie soll man glücklich sein, wenn man weiß, man wird in ein paar Jahren sterben müssen? Dennoch war ich wirklich häufig glücklich, weil es mir körperlich gut ging die ersten Jahre, ich so viele Dinge machen konnte, so viel Zeit hatte.“
– Matthias
Frau in schwarzem Rollkragen-Pullover.

Karin Isak (Foto: Privat)

„Es ist völlig normal, in Extremsituationen intensive Gefühle zu entwickeln, die in ihrer Heftigkeit überfordern“, sagt Karin Isak. Sie ist als Psychoonkologin bei der Österreichischen Krebshilfe in Wien tätig. „Wenn aber eine gewisse Intensität überschritten ist, die Angst kaum mehr aushaltbar ist, die Depression in die Tiefe zieht, die Wut übermächtig wird, sollte Hilfe aufgesucht werden.“

Anlaufstellen und Telefonnummern für Soforthilfe siehe grauer Kasten am Ende des Artikels.

Die letzten Dinge

Den Fußballplatz vor seinem Fenster, den schaut Matthias mit gemischten Gefühlen an. „Ich habe früher Sport gemacht, meinen Körper Belastungen ausgesetzt“, sagt er, „aber zurzeit ist er eben schon sehr stark beeinträchtigt.“ In den vergangenen Jahren hatte er trotz der Medikamente das Gefühl, immer noch einen gesunden, jungen Körper zu haben. „Und das nagt jetzt enorm am Selbstbewusstsein.“

„Man weiß, man wird noch ein bisschen was aushalten, aber man sollte auch nichts mehr groß aushalten.“
– Matthias

Eine Bucket List für den letzten Lebensabschnitt führt Matthias nicht. „Die Träume, die ich hatte, funktionieren nicht mehr.“ Er wünscht sich nur, wieder selbstständiger zu sein. Und es würde ihn freuen, noch einmal in seine Heimat nach Deutschland zu fahren und seine Freund:innen zu sehen. „Aber andere Dinge, in andere große Städte zu reisen, das wäre einfach nur unglaublich viel Stress und superanstrengend.“

„Ich kann gut sterben, ohne einmal in den USA gewesen zu sein. Ich muss auch nicht mehr die Pyramiden sehen.“
– Matthias

An manchen Tagen liegt Matthias einfach nur herum und denkt drüber nach, was er noch machen könnte, das nicht so anstrengend wäre. Etwas arbeiten? Über irgendetwas schreiben? „Am Ende wird es sowieso keiner lesen.“ Eines weiß er aber definitiv: „Politik interessiert mich. Wenn ich Texte lese, die überhaupt nichts mit Sterben und Tod zu tun haben, komme ich drauf: Ach verdammt, ich werde nicht erleben, wie es mit der österreichischen Politik weitergeht.“ Das stört ihn am meisten am Sterben. „Ich will die nächsten Neuwahlen erleben. Ich will einfach wissen, wie es ausgeht.“

Quellen:

Links:

Hilfe:
Wenn über Suizid, Suizidversuche oder Suizidgedanken erzählt wird, kann dies bei manchen Menschen eine vorherrschende Krise verschlimmern. In solchen Fällen bieten folgende Institutionen rund um die Uhr Soforthilfe.

Titelfoto: Privat

Dieses Interview erscheint nach dem Tod von Dr. Matthias Schreiber. Er ist am 22.07.2022 im Kreis seiner Familie verstorben und hatte zuvor der Veröffentlichung zugestimmt. (Aktualisiert am 24.10.2022)

Über die Serie

Stark sein? Runterschlucken? Das Schicksal ertragen? Wir von Kurvenkratzer bekommen latenten Brechreiz, wenn wir derartige Sprüche hören. Und warum flüstern wir, wenn wir über Krebs reden? Ja, Krebs ist in unserer Gesellschaft leider noch immer ein Tabu. Studien zufolge trifft aber jeden zweiten Menschen im Laufe seines Lebens eine Krebserkrankung. Krebs ist also alles andere als eine gesellschaftliche Nische.

In unseren Interviews sprechen wir mit Menschen, die Krebs am eigenen Leib erfahren haben oder nahe Betroffene sind. Wir reden mit ihnen über den Schock, den Schmerz, Hilfe zur Selbsthilfe, Humor und Sexualität, sowie darüber, wie es gelingt, Mut und Hoffnung zu finden. Damit möchten wir dich motivieren: Wenn du das Gefühl hast, über deine Erkrankung sprechen zu wollen, dann tu es. Du bist nicht allein.

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