
Patient:innen x Pharma: Es ist kompliziert!
Einige träumen von der perfekten Partnerschaft. Andere warnen vor Abhängigkeit und verdecktem Einfluss. Wir nehmen für euch die Zusammenarbeit von Patient:innenvertretungen und Pharmaunternehmen unter die Lupe und fragen: Wer profitiert am Ende von wem?
2/2 Falls du hier in den Text einsteigst: Auf der vorigen Seite ging es um fruchtbare Pharma-Kooperationen und strengere Transparenzregeln.
Denn: Viele Selbsthilfegruppen befürchten eine schleichende Einflussnahme der Pharmaindustrie auf ihre Organisationen. Immer wieder wird in der Krebscommunity gemunkelt, dass Pharmaunternehmen finanzielle Unterstützung an Bedingungen knüpfen oder gezielt jene Gruppen fördern, die ihre Produkte oder Strategien wohlwollend vertreten.
Ein Problem ist fehlende Transparenz: Kritiker:innen bemängeln, dass bestehende Selbstverpflichtungen der Unternehmen nicht ausreichen, um die Unabhängigkeit von Patient:innenorganisationen zu garantieren. Ohne externe Kontrollmechanismen bestehe die Gefahr, dass kommerzielle Interessen über patient:innenorientierte Lösungen dominieren.
Schwarz-weiß adé!
Fakt ist aber auch: Viele Pharmaunternehmen bemühen sich mehr um Transparenz und möchten ihre ethischen und professionellen Standards verbessern. Dafür hat der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) den Verein „Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie“ (FSA) gegründet. Dieser Verein sorgt dafür, dass Pharmaunternehmen fair und offen mit ihren Partner:innen zusammenarbeiten, etwa beim Teilen von Daten oder Produkten.
Mittlerweile ist der sogenannte FSA-Kodex zur Zusammenarbeit mit Patient:innenorganisationen eine wichtige Referenz für eine vertrauenswürdige Basis, wie Elke Naujokat erklärt: “Derartige Regelwerke sorgen für eindeutige Verhaltensstandards, Integrität und eine transparente Zusammenarbeit. So sind unter bestimmten Voraussetzungen die Teilnahme an Studien, gemeinsamen Veranstaltungen und ein sachlicher Informationsaustausch sinnvoll und möglich.”

Stellungnahmen wie diese durch eine der größten unabhängigen Selbsthilfegruppen in Deutschland zeigen, dass Schwarz-Weiß-Stimmungsbilder innerhalb der Landschaft onkologischer Interessensvertretungen nicht mehr zeitgemäß sind. Das ist ein großer Schritt in einen vernünftigen Diskurs, in dem genauer differenziert wird.
“Wenn die Wünsche, Erfahrungen und Meinungen der Patientinnen und Patienten den Forschenden bekannt sind, dann profitieren davon beide Seiten. Die Forschenden erhalten wertvolle Einblicke in die Bedürfnisse, Sorgen und Nöte von denjenigen, zu deren Wohl sie forschen.” – Elke Naujokat
Aus Behandelten werden Handelnde
Ein Schritt, der ins Gesamtbild passt. Denn auch die Rolle von Patient:innen im Gesundheitssystem wandelt sich – und mit ihr auch die Ansprüche an eine Zusammenarbeit mit der Industrie. Digitale Technologien wie Apps, Big Data oder Künstliche Intelligenz ermöglichen eine personalisierte Medizin, in der Patient:innen aktiver mitwirken können. Sie liefern etwa Rückmeldungen über ihr Befinden – sogenannte Patient Reported Outcome Measures (PROMs) – und gestalten so Forschung und Versorgung mit.
Jetzt fragst du dich vielleicht: Was hat das aber mit dem Verhältnis zwischen “Big Pharma” und Patient:innen zu tun?
Ziemlich viel. Denn mündige Patient:innen treten selbstbewusster auf. Sie entscheiden selbst, mit welchen Partner:innen sie zusammenarbeiten wollen. Und dabei zeigt sich: Sie wollen auch die Spielregeln dafür mitgestalten.
Kooperation: Ja…
Genau die Kerbe von Anita Kienesberger: Die Vorreiterin für Patient Advocacy in Österreich betont das Potenzial von Partnerschaften mit allen Akteur:innen im Gesundheitswesen. Dazu gehören eben auch Arzneimittelhersteller. “Entscheidend ist die ganz frühe Einbindung von Patient:innen, zum Beispiel bei klinischen Studien – unabhängig davon, ob von der Industrie, oder akademisch getrieben”, stellt sie klar. Idealerweise soll diese Einbindung zielgenau erfolgen, also mit indikationsspezifischen Patient Advocates.
Für Anita Kienesberger steht aber auch fest: Es muss dringend in die Schulung dieser Erfahrungsexpert:innen investiert werden, damit sie tatsächlich auf Augenhöhe mitreden und mitbestimmen können. Oder, etwas überspitzt formuliert: “Wenn man die Arzneimittelentwicklung nicht kennt, Zulassungsformalitäten nicht gelernt hat oder nicht weiß, wie das Gesundheitssystem funktioniert, dann ist es besser, man lässt als Patient:in die Finger von der Industrie.”
Ihre Forderung: Mehr Schulung, mehr Vernetzung, mehr Augenhöhe.

…aber nicht um jeden Preis
Auch Elke Naujokat setzt auf Qualifizierung – jedoch mit stärkerer Betonung der Unabhängigkeit. Sie spricht sich für transparente Strukturen und ein Zertifizierungsmodell aus, das Qualität und Neutralität sichert. In Deutschland gibt es bereits entsprechende Initiativen, wie die „Patienten-Experten-Akademie“ (PEAK) oder das Zentrum für Kompetenzentwicklung in der Krebs-Selbsthilfe in Freiburg. In Österreich steckt das Thema noch in den Kinderschuhen.
Beide Expertinnen betonen: Qualifikation kostet Zeit, Geld und Organisation. Ehrenamtlich ist das nicht zu stemmen. Es braucht politische und strukturelle Unterstützung – sonst bleibt der Anspruch auf Mitbestimmung nur Theorie.
Was bleibt?
Nur mit qualifizierten, unabhängigen Vertreter:innen kann Patient Advocacy gelingen.
Elke Naujokat setzt dabei auf strikte Kodizes und externe Kontrollen, um die Unabhängigkeit von Patient:innenvertretungen zu sichern. Wie Anita Kienesberger fordert sie eine fundierte Aus- und Weiterbildung von engagierten Patient:innen. Die WeCan-Vorsitzende legt dabei ganz besonderen Wert auf die frühe und indikationsspezifische Einbindung von Patient:innen in Forschungsprozesse und fordert eine stärkere Professionalisierung der Patient Advocacy.
Der Schlüssel? Klare Regeln, transparente Kommunikation und gegenseitiger Respekt. Aber vor allem auch Rahmenbedingungen – u.a. finanzielle und zeitliche Förderung – zur Qualifizierung von Patientenvertreter:innen. So kann aus Zusammenarbeit ein echter Gewinn für beide Seiten werden – für die Forschung ebenso wie für die Patient:innen.
Denn wenn Betroffene ihre Perspektive einbringen können, entstehen Therapien, die näher an der Lebensrealität sind. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe ist kein Widerspruch zur Unabhängigkeit – sondern eine Voraussetzung für echte Mitgestaltung.
Unser Appell an dich:
Egal, welche Meinung du hast: Bleibe mit anderen im Gespräch. Auch bei schwierigen Themen wie der Zusammenarbeit mit der Industrie lohnt es sich, genau hinzuschauen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln.
Denn nur wenn wir zusammenhalten, wird die Stimme von Krebspatient:innen im Gesundheitssystem wirklich gehört.
Quellen und Links zum Weiterlesen:
- Als Patient:in wird man nicht geboren, in die Rolle wächst man hinein. Wie das in einem modernen, digitalisierten Gesundheitssystem aussieht, zeigt eine Studie von Roland Berger.
- Wer sich selbst davon überzeugen will, wie streng die Zusammenarbeit von Pharmaindustrie und Patient:innenorganisationen auf europäischer Ebene geregelt ist, kann im Kodex zur Zusammenarbeit der pharmazeutischen Industrie mit Patientenorganisationen nachlesen.
- Zusammengefasst hat die Regelung der Zusammenarbeit von Pharmaindustrie und Patient:innenorganisationen Deutschland das Deutsche Ärzteblatt.
- Die ehrenamtliche Selbsthilfe in Deutschland positioniert sich entsprechend der Leitsätzen der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Selbsthilfe und des Paritätischen Gesamtverbands.
- Kritische Position bezieht der Verband der Ersatzkassen e.V. und mahnt zu Wachsamkeit, maximaler Transparenz und Offenlegung von Interessenskonflikten und Geldflüssen.
- Die Frauenselbsthilfe Krebs ist eine der größten unabhängigen Selbsthilfegruppen in Deutschland. Elke Naukojat ist die Bundesvorsitzende.
- Anita Kienesberger ist Vorsitzende von WeCan, einem Netzwerk von onkologischen Patient:innenorganisationen in ganz Europa.
Titelbild: Unsplash/wei-ding
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Über die Serie
Stell dir vor, du hast kein Wahlrecht. Du lebst zwar in einem modernen Staat, doch es gibt niemanden, der oder die deine Interessen vertritt. Sobald du bei Entscheidungen mitreden willst, heißt es: Sorry, das geht nicht. Du bist ja kein:e Expert:in. So ähnlich könnte man den aktuellen Zustand der Patient:innenvertretung beschreiben. Okay, das Gesundheitssystem ist natürlich keine Diktatur. Tatsache ist aber, dass Patient:innen in vielen Ländern bei wesentlichen Entscheidungen kaum mitbestimmen können. Genau darum geht es in “Mit uns statt über uns”. In unserer Serie machen wir erfahrbar, warum es dringend mehr anerkannte, professionelle Patient:innenvertretungen braucht. Wir greifen das Thema in aller Tiefe auf. Zeigen Beispiele, blicken in andere Länder, entlarven die Einwände, sprechen über Vorteile und schlagen vor, wie ein Paradigmenwechsel funktionieren könnte.
Mit dieser Serie verbinden wir zwei Leidenschaften. Wir sind ein Magazin, arbeiten journalistisch und fühlen uns ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Wir sind aber auch Teil von euch, unserer Patient:innencommunity, und wollen mehr Mitsprache. Wir nehmen uns nichts Geringeres vor, als beides zu erreichen.