„Wir dürfen Palliativpatient:innen nicht niederkuscheln“
Der letzte Lebensabschnitt ist noch nicht das Ende von allem – schon gar nicht von Selbstbestimmung. Wir haben mit Hospiz- und Palliativprofi Rainer Simader über Befähigung, Bewegung und das Leben bis zuletzt gesprochen.
Seite 2/2: Willkommen auf Seite 2! Pssst, leise. Rainer erzählt uns gleich, wie ihn die Nähe zum Tod beeinflusst hat.
Kurvenkratzer: Ein Fitnessstudio für Palliativpatient:innen sieht aus wie ein normales Fitnessstudio?! Wow. Das hätten wir nicht gedacht. Wie gehst du auf emotionaler Ebene vor?
Rainer: In der Palliative Care arbeiten mit dem Konzept des „Total Pain“. Das heißt, Schmerz betrifft nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Gerade wenn akute körperliche Schmerzen erstmal gut behandelt sind, ist plötzlich ganz viel Raum für emotionale, spirituelle, existenzielle und soziale Aspekte da: Wie spricht man in der Familie über schwierige Themen? Wie geht man mit Angst um – etwa bei Atemnot? Was gibt mir spirituell Kraft? Welche sozialen Strukturen sind hilfreich?
Kurvenkratzer: Das klingt, als wäre ganzheitliches Denken in der Hospiz- und Palliativbewegung angekommen.
Rainer: Ich denke, ja. Erfahrene, gut ausgebildete Palliativpersonen können sehr vernetzt denken. Manchmal zeigt sich auch, dass Schmerz gar nicht nur körperlich ist. Und da fragt man sich in der Palliative Care schon: Was könnte da noch dahinter stecken?
Manchmal ist hier der Seelsorger der bessere Schmerztherapeut. Auch das Haustier kann viel bewirken. Diese Perspektive ist heute gut etabliert.
Wie uns Rainer bereits erzählt, gibt es eine Menge Positives über Palliatives! Wenn du das Tabu hinter dir lassen willst, und ganz genau verstehen willst, was Palliative Care macht, dann hier lang!
Wie „Dableiben“ helfen kann
Kurvenkratzer: Was brauchen Menschen am Lebensende? Du hast ja schon viele begleitet. Gibt es Dinge, die alle brauchen, oder ist das immer ganz unterschiedlich?
Rainer: Gute medizinische Versorgung ist entscheidend, echtes Interesse und Dableiben – das ist ganz wichtig. Viele Menschen erleben am Lebensende, oder auch in der Trauerzeit, große Einsamkeit.
Kaum steht die Diagnose Krebs im Raum – und dann noch „palliativ“ – sieht man oft, wie sich das halbe soziale Umfeld zurückzieht. Weil viele einfach nicht wissen, wie man damit umgeht, oder Angst davor haben, etwas Falsches zu sagen. Das Ergebnis ist, dass oft einsame Menschen überbleiben.
Deshalb: wirklich dableiben und einfach da sein. Und auch: Menschen etwas zutrauen. Eine befreundete Gerontologin sagt immer: „Wir dürfen sterbende Menschen nicht niederkuscheln.“ Natürlich braucht es Fürsorge – aber auch Zutrauen.
Zuguterletzt ist es sehr wichtig, sie am Leben teilhaben zu lassen. Um das Sterben müssen wir uns gar nicht kümmern, das tun unsere Patient:innen auch von alleine – aber das Leben, das fällt ihnen oft schwer. Deshalb: Fokus auf Lebensqualität.
Selbstbestimmt auf dem letzten Weg ist auch ein Thema, dem wir uns in diesem Artikel gewidmet haben. Was vor dem Tod erledigen? Worum noch kümmern, an das manch eine:r gar nicht denkt?
Es fehlt an Wissen und Personal
Kurvenkratzer: Sind diese Gedanken in Österreich schon verankert? Oder braucht es da noch Veränderungen im Umgang mit Patient:innen?
Rainer: In der Hospiz- und Palliativversorgung schaffen wir schon viel davon. Wenn ich mir aber das restliche Gesundheitssystem anschaue, sehe ich Aufholbedarf. Die Hospiz- und Palliativwelt bietet da ein echt gutes Vorbild. Nicht nur auf das Körperliche fokussieren, nicht diese „Wir machen alles wieder gut“-Mentalität. Sondern schauen: Was brauchen Menschen noch? Was ist ihnen im Leben wichtig?
Wir wissen, dass das Sterben in vielen Settings noch nicht gut begleitet ist – es fehlt an Wissen, an Rahmenbedingungen, an Personal. Auch wenn eine gute medizinische Versorgung da ist, heißt das nicht automatisch, dass die Menschen eine gute Lebensqualität haben.
Palliativarbeit hinterlässt Spuren
Kurvenkratzer: Und wie ist das für dich persönlich, so viele Menschen sterben zu sehen? Was macht das auf Dauer mit einem? Wird man emotionaler, stumpft man ab?
Rainer: Ich denke, durch diese Arbeit habe ich manche Lebensentscheidungen anders getroffen. Ich bin oft sehr dankbar für diese “Lehrmeister:innen”, die mir gezeigt haben, was Lebensqualität wirklich bedeutet.
Andererseits habe ich Dinge gesehen, die andere Menschen nie sehen – und auch Dinge, bei denen ich nicht sicher bin, ob es gut ist, dass ich sie gesehen habe. Diese Arbeit ist eben manchmal belastend. Wir wissen nämlich, dass die Raten für sekundäre Traumatisierungen oder posttraumatische Belastungsstörungen unter Palliativ- oder Onkologiemitarbeitenden sehr hoch sind. Das hinterlässt Spuren.
Diese emotionale Verfügbarkeit ist zwar wichtig – es ist keine alltägliche Arbeit, weil wir mit sehr emotionalen, echten Menschen zu tun haben. Aber man muss eben achtsam mit den eigenen Kapazitäten umgehen. Deshalb habe ich mich entschieden, für eine Zeit lang nicht mehr direkt mit Patient:innen zu arbeiten – um wieder Abstand zu bekommen. Denn egal, wie viel Supervision oder Therapie man macht: Diese Arbeit berührt einen oft tief.
Kurvenkratzer: Vielen Dank für das tolle und ehrliche Gespräch, lieber Rainer.
Quellen und Links:
- Auf Physio Austria erfährst du mehr über Rainers Lehrgang “Physiotherapie in der Palliative & End‑of‑Life Care” – ein innovatives Fortbildungsformat zwischen Bewegung, Schmerzlinderung & Empowerment.
- Auf der Website der Österreichische Palliativgesellschaft bekommst du einen Einblick in Rainers Tätigkeit in der Task Force Physiotherapy.
- Auf Rainers persönlichen Website findest du Seminare, seine Talkshow „Sterben ist das Allerletzte!“, Podcast-Formate und Engagement in Diversität und Bildung.
- Rainer ist außerdem Herausgeber des “Leidfaden” – ein Fachmagazin für Krisen, Leid und Trauer.
- Auf der Seite von Hospiz Österreich erfährst du alles wissenswertes zu Hospiz- und Palliativangeboten
Titelbild: Pixabay/Sarah Loetscher
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