Krebsbombe im Geldbeutel: Armutsfalle exposed
Das Gesundheitswesen realisiert, dass viele Patient:innen mit langem Krankheitsverlauf armutsgefährdet sind und will herausfinden, warum das so ist und was im System falsch läuft. Nach nächtelanger Recherche trifft es auf den Sozialarbeiter Jürgen Walther und den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Krebshilfe, Gerd Nettekoven.
Was das Gesundheitswesen diesmal lernt:
- Welche Gruppen durch lange Krankheit armutsgefährdet sind
- Warum die Politik (bisher) nichts macht
- Wie man bürokratische Hürden überspringt
- Wo der Eingang zur geheimen Kammer der wichtigen Infos liegt
- Wie die Berufsunfähigkeitsversicherung dir den Hintern rettet
- Warum das Krankengeld nicht ausreicht
Liebes Tagebuch,
letztens habe ich mir eine neue Pflanze zugelegt. Einen Kaktus – leicht zu pflegen, kaum Ansprüche. Das traue ich mir zu, habe ihn gleich zum Bonsai gestellt. Es stellt sich heraus, sie harmonieren nicht so ganz miteinander. Auf der einen Seite der ruheliebende Bonsai, auf der anderen der Kaktus, der – so wie ich – am liebsten Nirvana hört. Folgerichtig habe ich ihn Kurt getauft.
Der gute alte Bonsai hat auch einen Namen bekommen: Genki. Das ist japanisch für Gesundheit und Lebenskraft. Kurt und Genki sollen – in all ihrer Gegensätzlichkeit – eine neue Phase markieren. Ich bin bereit! Bereit, nicht mehr wegzuschauen.
Vielleicht traue ich mich eines Tages auch an eine Artischocke heran, so wie Nhomsai, die deutsche Krebspatientin, die ich neulich im Gartencenter getroffen habe. Was sie mir erzählt hat, hat mich aufgewühlt. Als wäre Krebs nicht genug, bekommt man auch noch so eine stressige Aufforderung zugeschickt, und das mitten in der Therapie.
Sie meinte auch, dass sie froh sei, nebenher noch geringfügig arbeiten zu können, sonst würde es knapp werden mit dem Geld. Da habe ich mir gedacht: Den meisten Krebspatient:innen kann man doch nicht zumuten, gleich nach der Akuttherapie wieder arbeiten zu gehen, oder?
Was bisher geschah:
Ich, das Gesundheitswesen, bin überlastet und wurde mit Burnout diagnostiziert. Die Psychotherapeutin riet mir, auf Spurensuche nach meinen Stressoren zu gehen. Zuerst habe ich mich mit dem Personalmangel in der Pflege und dem Problem des Föderalismus beschäftigt. Und nachdem mir ein Bettenfahrer den Weg gewiesen hat, bin ich mir bewusst geworden, wie Wissen über die eigene Gesundheit zur Vorsorge beitragen kann.
Armutserfahrungen Galore
Ich kann mich noch erinnern: Nhomsai trug auf ihrem Kopf eine Mütze mit der Aufschrift “leukaemut”. Sie meinte, das sei der Name ihres Instagram-Profils. “Was für’n Gram?”, fragte ich nur. Ich dachte, auf Facebook tummelt sich die Welt.
Naja, es scheint, ich war wieder mal hinten nach. Also lade ich mir dieses Instagram herunter, und gerate über Nhomsais Profil zu einem Post über das Dilemma der Armutsfalle Krebs vom Kurvenkratzer Magazin. Was ich zuerst für eine Interessengruppe für Motorsport halte, entpuppt sich als patient:innenzentriertes Krebsmagazin.
Ich glaube meinen Augen kaum: Die Kommentare zeichnen ein eindeutiges Bild.
Ich bin verblüfft. Das Problem ist doch größer, als ich dachte. Es scheint, als würden alle mit längerem Krankheitsverlauf beachtliche finanzielle Einbußen erleiden, während die Ausgaben steigen. Und somit Gefahr laufen, in die Armutsfalle zu geraten. Als wäre Krebs nicht genug, rollt auch noch eine Welle an Bürokratie auf sie zu, für die man die sowieso schon knappen Energiereserven aufbrauchen muss.
Die Armutsschwelle bei alleinstehenden Menschen liegt bei unter 1.148 € pro Monat in Deutschland und bei 1.392 € in Österreich. Knapp 13,8 Millionen Menschen in Deutschland befinden sich unter dieser Schwelle. In Österreich sind es 1,5 Millionen.
Ich google meinen Weg durch das Internet und stoße auf einen Erfahrungsbericht von Regina Puntigam aus Österreich. Sie ist zum zweiten Mal mit Brustkrebs konfrontiert und hat zwei Kinder im Teenageralter.
“Ich habe derzeit große Probleme mit der ÖGK (Österreichische Gesundheitskasse) Steiermark, die alle sechs Wochen Befunde von mir einfordert, obwohl aus den bereits geschickten klar hervorgeht, dass ich sicher in diesem Jahr nicht mehr arbeitsfähig bin (Chemo, OP, Bestrahlung).
Dennoch muss ich regelmäßig Untersuchungsergebnisse schicken, die dann vom Chefarzt begutachtet werden. Der Chefarzt hat viel zu tun, plus wenig Chefärzt:innen ergibt Wartezeiten – d.h. ich warte regelmäßig und mit Schweißperlen auf der Stirn auf mein Krankengeld. Teilweise habe ich das Geld zwei Wochen später erhalten und das auch nur, weil ich lästig war. Sofern ich Kraft dazu hatte. […] Das kostet so viel Kraft und Nerven und man ist so machtlos, schrecklich.
Mein Arbeitgeber kündigt das Dienstverhältnis auch mit Jänner. Alles in allem habe ich sehr viele Geldsorgen seit ich krank bin.”
– Regina Puntigam
Recherchieren bis zum Morgengrauen
Besorgniserregend, denn sie scheint bei weitem nicht die Einzige in solch einer Lage zu sein. In Deutschland wie in Österreich gibt es etliche Menschen, die die finanzielle Treppe nach unten laufen und sich früher oder später in einem Bürokratiedschungel verirren, der viele Tücken mit sich bringt. Das führt zu Stress, der nicht gerade dabei hilft, möglichst schnell wieder gesund zu werden.
Ich recherchiere weiter, will wissen, wie viele Leute mit Krebs und chronischen Krankheiten auch von Armut betroffen sind. Und finde… nichts. Enttäuschend. Es scheint keinerlei Daten zu geben. Vor allem in Österreich hängen ausschließlich Spinnenweben im Datenkammerl. Draußen geht die Sonne unter, während ich im kalten Licht meines Laptop-Bildschirms immer tiefer in die Gewölbe der Armutsthematik hinuntersteige. Dabei schießen mir immer mehr Fragen in den Kopf. Nur Antworten finde ich kaum.
Ich rieche Innovationsbedarf und verlange Aufklärung! Aber von wem? Gerade als ich meinen blutunterlaufenen Augen eine Pause geben will, stoße ich auf ein Positionspapier der Krebshilfe Deutschland, das endlich die gesamte verdammte Problematik anspricht.
Die armutsgefährdeten Gruppen sind:
- Junge Familien, wenn der:die Hauptverdiener:in erkrankt
- Alleinerziehende
- Paare und Familien, wenn der:die pflegende Partner:in die Arbeitszeit reduzieren muss
- Junge an Krebs erkrankte Menschen mit geringen Rentenansprüchen
- Einzelverdiener:innen und Niedriglohnempfänger:innen
- Selbstständige
Hachje, das schließt ziemlich viele Menschen ein. Unter anderem mich. Das fängt ja gut an.
Irgendwer muss mir auf die Sprünge helfen, meine viereckigen Augen entlasten. Ich bemerke, wer an dem Positionspapier mitgewirkt hat – ein gewisser Jürgen Walther, der in der Leitung des Sozialdienstes des Nationalen Zentrums für Tumorerkrankungen in Heidelberg sitzt. Sozialarbeiter:innen sollten ja diejenigen sein, die Licht ins Dunkel des Sozialversicherungssystems bringen. Der wird mir sicher helfen können.
Außerdem kenne ich das Zentrum dort. Das hat einen besonders guten Ruf, wenn es darum geht, Krebspatient:innen bei den verschiedensten Themen an der Hand zu nehmen.
Also habe ich mir mit Jürgen prompt ein Rendezvous ausgemacht. Ohne Kerzenschein, dafür bei Sonnenuntergang, treffe ich ihn in seinem Büro, um mit ihm die Armutsfalle zu ergründen.
Auf der nächsten Seite beantwortet mir der Sozialdienstexperte Jürgen Walther meine vielen Fragen und ich treffe auf jemanden, der etwas gegen die Armutsgefährdung unternimmt.
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Über die Serie
Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.
In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.