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Mit uns statt über uns
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Gesundheitsreform: Wo bleibt die Patient:innensicht?

In Österreich soll künftig ein „Bewertungsboard“ Empfehlungen darüber abgeben, ob spezialisierte Arzneimittel in Krankenhäusern eingesetzt werden. Das finden wir gut – nicht aber, dass Patient:innen (wieder einmal) nicht mitreden dürfen. Ein Kommentar der Patient Advocates Martina Hagspiel, Anita Kienesberger und Claas Röhl.

Wie steht es in Österreich um die Mitsprache von Patient:innen? Aufmerksame Kurvenkratzer-Leser:innen kennen die Antwort: Nicht gut. Eine Einbindung auf Augenhöhe ist gesetzlich nicht vorgesehen und findet daher kaum statt. 

Das wird sich auch mit der geplanten Gesundheitsreform nicht ändern. 

Dabei sieht sie wichtige Modernisierungsschritte vor: So sollen künftig sogenannte Bewertungsboards empfehlen, welche hochspezialisierten (sprich: teuren) Medikamente in Krankenhäusern zum Einsatz kommen. Das ist bisher ungeregelt – ein Missstand, auf den zuletzt auch der renommierte Gesundheitsökonom Thomas Czypionka in einem Interview mit dem Kurvenkratzer-Magazin hinwies.

Anders als im niedergelassenen Bereich, kann jedes Krankenhaus selbst entscheiden, welche Medikamente es für geeignet hält. Als Patient:in kann es dir deshalb passieren, dass du im Krankenhaus A ganz andere Medikamente bekommst als im Krankenhaus B. Im Extremfall könntest du schlechter gestellt sein, wenn du im falschen Bundesland an Krebs erkrankst, weil dort das benötigte Medikament vielleicht nicht verabreicht wird, das du an anderer Stelle problemlos bekommst.

Porträts von Martina Hagspiel, Anita Kienesberger und Claas Röhl.
Die Autor:innen v.l.n.r.: Martina Hagspiel, Anita Kienesberger und Claas Röhl. (Fotos: Caro Strasnik/privat/Lena Horvath)

Der Teufel und die Details

Diesen Missstand sollen die neuen Bewertungsboards beenden. Mit einem Prozess, der HTA genannt wird: Health Technology Assessment. Dieser Ansatz ist international üblich und für Österreich in Teilbereichen ein echter Schritt nach vorn. Doch wie immer liegt der Teufel im Detail. Eines dieser Details findet sich in der Zusammensetzung der „Boards“, die diese Bewertung vornehmen sollen.

Im aktuellen Entwurf finden sich darin Vertreter:innen des Ministeriums, der Bundesländer, der Kassen und medizinische Fachexpert:innen, sowie ein:e Abgesandte:r der Patient:innenanwaltschaft.  Letztere:r aber ohne Stimmrecht. 

Dass nun nicht mehr ausschließlich Mediziner:innen über den Einsatz neuer Medikamente entscheiden, führte naturgemäß zu Unsicherheit seitens der Ärzteschaft und veranlasste auch die Krebshilfe zu Kritik.

Wer am Verhandlungstisch fehlt

Ob diese Ängste berechtigt sind, muss sich erst zeigen. Was aus unserer Sicht jedoch eindeutig fehlt: die Beteiligung von qualifizierten Patient:innenvertreter:innen, sogenannten Patient Advocates. Also eine patient:innengetriebene Interessenvertretung. Wie aber kann eine Nutzenbewertung ohne Einschätzung derer stattfinden, denen ein Medikament helfen soll?

Was ist Patient Advocacy? Warum braucht es mehr Mitsprache? In unserer Serie „Mit uns statt über uns“ erfährst du alles darüber.

So wichtig die Arbeit der gesetzlich vorgesehenen Patient:innenanwaltschaften ist – ihr Auftrag unterscheidet sich klar von einer Interessenvertretung, die von Patient:innen selbst angetrieben wird. Im Fokus der Patient:innenanwaltschaft liegt das Verhältnis zwischen Ärzt:innen und Patient:innen, Streitschlichtung und allgemeine Themen wie Datenschutz.

Im Gegensatz dazu leitet sich das Hauptaugenmerkt der patient:innengetriebenen Interessenvertretung direkt aus den Lebensrealitäten der Patient:innen ab. Hier stehen Lebensqualität, Zugang zu Forschung, Innovation und Information im Vordergrund. 

Stand up for your rights! Frau mit erhobener Faust.
Mit uns statt über uns! Patient Advocates wehren sich gegen die fehlende Mitsprache. Diese ist auch in der Gesundheitsreform nicht vorgesehen. (Foto: Unsplash/Miguel Bruna)

Es geht um Ausgewogenheit

Die Beteiligung von Patient:innen am HTA-Prozess sowie das Abwägen ihrer individuellen Bedürfnisse mit denen der allgemeinen Bevölkerung sind hier maßgeblich. Daher ist es essentiell, für eine Ausgewogenheit zwischen (medizinischen) Fachleuten, Expert:innen der Pharmaindustrie, den Bedürfnissen der Bürger:innen im Allgemeinen und den Bedürfnissen von uns Patient:innen zu sorgen. 

Blickt man über die österreichischen Grenzen hinaus so sind im internationalen Vergleich die Gremien zur Gesundheitstechnologiebewertung unterschiedlich organisiert. Die Art und Weise, in der Patient:innen  einbezogen werden, hängt vom jeweiligen politischen und kulturellen Kontext ab. Vielerorts musste die Zusammenarbeit auch erst einmal entstehen und sich im Laufe der Arbeit entsprechend entwickeln. Auch unterscheiden sich die Ansätze, wie qualifizierte Patient:innenstimmen eingebunden werden.  

Unabhängig vom jeweiligen Modell zeigt sich aber immer wieder, dass Patient:inneneinbindung in HTA-Prozesse viele Vorteile hat: 

  • Die Prioritäten in Bezug auf HTA-Themen werden patient:innenzentriert gesetzt.  
  • Durch die Orientierung an den Bedürfnissen der Patient:innen wird die Relevanz der Entscheidungen erhöht. In Folge sind die Ergebnisse für Patient:innen tatsächlich nützlich.  
  • Es gibt eine leichter fassbare Nutzen- und Zusatznutzenbewertung, denn mit entsprechender Patient:inneneinbindung werden die relevanten Themen schneller sichtbar.  
  • Potenzielle Themen für die Gesundheitstechnologienbewertung können leichter identifiziert werden. 
  • Die Einbindung von qualifizierten Patient:innenstimmen ermöglicht die Entwicklung geeigneter Prozesse und Methoden von Anfang an und reduziert die Gesamtkosten für das Gesundheitswesen. 
  • Der Weg durch eine chronische Erkrankung ist komplex. Qualifizierte Patient:innenstimmen wissen, an welchen Stellen ihre Community Orientierung und Unterstützung braucht.  
  • Die verständliche Erläuterung von HTA-Befunden, die verbesserte Kommunikation der Ergebnisse in der Öffentlichkeit, sowie deren verbesserte Verbreitung durch aktive Patient:innenorganisationen und -netzwerke wird ermöglicht. 

Es geht um Geld. Unser Geld.

In den meisten Gesundheitssystemen, so auch in Österreich, sind die Steuerzahler:innen die Hauptfinanzierungsquelle. Deshalb gehen Entscheidungen in Bezug auf die Gesundheit auch alle etwas an. Denn wir alle sind bereits Patient:innen oder werden zukünftig Patient:innen sein. Somit fehlt in Österreich für die größte Gruppe an Bezahler:innen (und für den größten Budgetposten) der Zugang für die basisgetriebene Interessenvertretung, nämlich die der Patient:innen.  

Als Patient Advocates, die sich seit Jahren für eine Stärkung der Rechte von Patient:innen einsetzen, stimmt uns das mehr als nachdenklich. Aus unserer Sicht ist die geplante Reform eine verpasste Chance, Patient:innen mehr Mitsprache zu gewähren. Ein solcher Schritt wäre nicht nur logisch, sondern mit Blick auf internationale Entwicklungen in diesem Bereich auch das Gebot der Stunde, will Österreich nicht weiter hinterherhinken. 

Leuchtschrift: Say it louder!
Laut schreien allein reicht nicht. Als Patient Advocate muss man auch Lösungen vorschlagen. (Foto: Unsplash)

Blick nach Deutschland

Dass die Mitsprache auf Augenhöhe bei Zulassungsfragen möglich ist, zeigt Deutschland seit fast 20 Jahren vor: Dort entscheidet der sogenannte Gemeinsame Bundesausschuss über die Erstattung von Therapien. Fixer Bestandteil des Gremiums sind unabhängige Vertreter:innen von Patient:innenorganisationen. Unterstützt werden sie von einer eigenen Stabstelle. Der einzige Wehrmutstropfen auch dort: Sie haben Antrags- und Mitspracherecht, aber (noch) kein Stimmrecht.  

Doch zurück nach Österreich. Kritisieren ist das eine. Aber wie könnte die Lösung aussehen? 

Lösungsvorschlag

Zum Beispiel so: Die umfassende Einbindung qualifizierter Patient:innenstimmen auf allen Ebenen muss gesetzlich festgeschrieben werden. Nicht Patient:innenanwaltschaften, sondern Patient:innenvertreter:innen mit der nötigen Expertise sollen Betroffene vertreten – indikationsspezifisch, nicht pauschal.

Expert:innen, die einerseits die Erfahrung aus ihrer Erkrankung mitbringen, andererseits entsprechend ausgebildet sind und das nötige Fachwissen besitzen, um sich im Sinne der Betroffenen in Entscheidungsprozesse einzubringen. Solche Patient Advocates gibt es bereits in Österreich, und wir werden dank entsprechender Bildungsangebote immer mehr.  

Mit der aktuell geplanten Reform macht Österreich zwar einen Schritt vor –  aber eben auch einen zurück. Die Einführung der Bewertungsboards ist ein Schritt Richtung Modernisierung, und die ist jedenfalls notwendig. In Sachen Patient:innenbeteiligung treten wir in Österreich jedoch weiter auf der Stelle.  

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Es muss verstanden werden, dass optimale Versorgung nur dann gelingen kann, wenn qualifizierte Patient:innenstimmen einen Platz am Verhandlungstisch und dort auch ein Stimmrecht haben.  

Alles Liebe,
Martina Hagspiel, Anita Kienesberger & Claas Röhl

  • Martina Hagspiel ist Patient Advocate, Gründerin der Kurvenkratzer GmbH und dem Verein InfluCancer 
  • Anita Kienesberger ist Vorsitzende von Childhood Cancer International Europe, Vorsitzende von WeCan (network of cancer patient organisations in Europe) und Obfrau der Allianz onkologischer Patient:innenorganisationen 
  • Claas Röhl ist Patient Advocate, Mitarbeiter der Kurvenkratzer GmbH und Gründer des Vereins NF Kinder 

Titelillustration: Lena Kalinka

Über die Serie

Stell dir vor, du hast kein Wahlrecht. Du lebst zwar in einem modernen Staat, doch es gibt niemanden, der oder die deine Interessen vertritt. Sobald du bei Entscheidungen mitreden willst, heißt es: Sorry, das geht nicht. Du bist ja kein:e Expert:in. So ähnlich könnte man den aktuellen Zustand der Patient:innenvertretung beschreiben. Okay, das Gesundheitssystem ist natürlich keine Diktatur. Tatsache ist aber, dass Patient:innen in vielen Ländern bei wesentlichen Entscheidungen kaum mitbestimmen können. Genau darum geht es in “Mit uns statt über uns”. In unserer Serie machen wir erfahrbar, warum es dringend mehr anerkannte, professionelle Patient:innenvertretungen braucht. Wir greifen das Thema in aller Tiefe auf. Zeigen Beispiele, blicken in andere Länder, entlarven die Einwände, sprechen über Vorteile und schlagen vor, wie ein Paradigmenwechsel funktionieren könnte.

Mit  dieser Serie verbinden wir zwei Leidenschaften. Wir sind ein Magazin, arbeiten journalistisch und fühlen uns ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Wir sind aber auch Teil von euch, unserer Patient:innencommunity, und wollen mehr Mitsprache. Wir nehmen uns nichts Geringeres vor, als beides zu erreichen.

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