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Carstens Psychoonkologie-Kolumne
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Carsten erzählt: Wenn man trotz Krankheit dazugewinnt

Krankheit bedeutet Schmerz und Verlust, aber auch Entwicklung. Unser Psychoonkologe Carsten reflektiert darüber, wie und warum aus einer Erkrankung auch Positives entstehen kann.

Was du gleich erfahren wirst: 

  • Warum Krankheit Bedürfnisse sichtbarer macht. 
  • Wie Beziehungen ungeahnte Tiefe gewinnen. 
  • Warum Krebs wie ein Beschleuniger für Entscheidungen wirkt.

Soso, Krankheitsgewinn. Klingt irgendwie beleidigend, oder? Als wäre Krankheit eine Chance, die man opportunistisch nutzen kann. Im ersten Moment denkst du dir vielleicht: Was soll denn das jetzt?! Ich habe doch keine Krankheit gewonnen. Habe ich nicht eher meine Gesundheit verloren, meine Lebensqualität, meine Zeit in der Sonne? Und die Antwort ist: Ja, stimmt – verdammt. Aber darum geht’s hier nicht. 

Ich möchte heute über die Dinge reden, die sich durch eine chronische Erkrankung zum Positiven entwickeln können. Es mag nach Sakrileg klingen, aber ich behaupte, als Psychoonkologe und Mensch mit metastasierter Krebserkrankung, dass 99 Prozent aller Menschen durch die Erkrankung nicht nur verlieren, sondern auch etwas dazu gewinnen. Auch wenn der Gewinn paradoxerweise auf einer belastenden Erkrankung fußt. Okay, okay, lass mich erklären.

Carstens Psychoonko-Kolumne  

Warum ist Carsten Psychoonkologe geworden? Grund war eine hautnahe Krebserfahrung, im zarten Alter von 24. Die Zeit war jedoch nicht nur schwer, sondern auch lehrreich. 14 Jahre nach seiner Diagnose ist er, trotz schlummernder Metastasen, das blühende Leben selbst, läuft Marathons und hilft mit seiner positiven Art und seinem ausschweifenden Wissen jungen wie alten Krebspatient:innen beim psychischen Waschgang.  

Jetzt auch in geschriebener Form! Das Kurvenkratzer Magazin präsentiert “Carstens Psychoonko-Kolumne” (inklusive schwarzem Humor und hochdosierter Empathie). Seine ganze krasse Geschichte kannst du hier nachlesen! 

Bedürfnisse werden wahrgenommen 

Egal, um welche Erkrankung es geht – jede:r erlebt sie anders. Doch ob bewusst oder unbewusst: Im Grunde gewinnt jede:r auch etwas durch eine Krankheit, und mag es noch so klein sein. Ich hatte zum Beispiel das Glück, dass Freund:innen sich nicht abgewandt, sondern eher zugeneigt haben.  

Personen als Sensenmann verkleidet mit Sense
Häufige Realität: Erst wenn der Sensenmann vor der Tür steht, werden Bedürfnisse wahrgenommen. (Pexels/Alex Sever)

Ich wurde mehr in meinen Bedürfnissen wahrgenommen, allein, weil ich krank war. (Im größeren Kontext unserer Gesellschaft ärgert mich das schon ein wenig: Warum werde ich erst ernst genommen, wenn der Sensenmann hinten dransteht?)

Gleichzeitig habe ich gelernt, stärker zu meinen eigenen Bedürfnissen zu stehen. Das ist langfristig ein Gewinn – oder, wenn man so will, ein Wachstum. 

Beziehungen werden klarer

Ein großer Teil dieses sogenannten Krankheitsgewinns zeigt sich in Beziehungen. Partnerschaften verändern sich, Freundschaften vertiefen sich. Ich habe Paare erlebt, die eng zusammenrücken und durch die Belastung wachsen. Gleichzeitig sind auch viele an der Krankheit zerbrochen. Gerade wenn man merkt, dass einem der oder die Partner:in nicht zur Seite steht, steht man vor blanken Tatsachen. 

Aber Trennung ist nicht immer gleich schlecht, ganz im Gegenteil: In manchen (toxischen) Fällen kann das als ein großgeschriebenes W (also Win) in punkto Lebensqualität vermerkt werden – eine Rückbesinnung zu den eigenen Werten. 

Gehst du durch eine schwierige Phase der Trennung? Und das auch noch während oder sogar wegen Krebs? Dieser Artikel bietet dir eine helfende Hand. 

Sobald Krankheit sich in die Beziehung zwängt, handelt es sich genau genommen um eine Dreiecksbeziehung. Und die wird auf eine harte Probe gestellt. Je nachdem, wie stabil das Fundament der Beziehung vorher schon war, wird die Erkrankung entweder zur Zerreißprobe oder zum Superkleber. Im Endeffekt wirkt sie eben wie ein Beschleuniger: Sie verstärkt, was schon da ist. Apropos. 

Entscheidungen werden beschleunigt 

Ich nenne es gern den „Bullshitfilter“: Menschen, die einem nicht guttun, verschwinden schneller, Jobs, die keinen Sinn ergeben, werden schneller gekündigt, während Selbstfürsorge, authentische Beziehungen und eigene Werte in den Vordergrund rücken. 

Achterbahnausschnitt mit TURBO Buchstaben
Krankheit als Entscheidungsbeschleuniger? Keine Seltenheit. (Foto: Unsplash/Charlotte Coneybeer)

Ich persönlich habe zum Beispiel mein Abi nachgeholt, andere beginnen ein Studium oder machen die große Reise, von der sie schon immer geträumt haben. Eines haben aber fast alle gemeinsam: Die Gesundheit wird nicht mehr als selbstverständlich wahrgenommen. Und so werden die kleinen Dinge neu schätzen gelernt – ich denke da an erholsamen Schlaf oder mehr Zeit in der Natur. 

Aber: Gewinn braucht Zeit

Nicht nur für Krebs gilt: Erst nach der körperlichen Behandlung beginnt die seelische. Für viele geht es zunächst bergab, bevor sich ein langfristiger Aufwärtstrend bemerkbar macht. Kurzfristig zeigt sich Unterstützung durch das Umfeld oder das medizinische System, langfristig entstehen Veränderungen in Werten, Selbstfürsorge und Lebensperspektiven. 

Du hast gerade eine frische Krebsdiagnose bekommen und es geht gefühlt nur bergab? Dieser Artikel versteht das und erklärt dir, wie es mit psychoonkologischer Hilfe wieder bergauf gehen kann. 

Nicht jede:r hat jedoch das Privileg, Krankheit als “Chance” zu sehen. Für manche ist sie zu belastend oder lebensverkürzend – in diesen Fällen wirkt die Rede vom „Gewinn“ verletzend. Deshalb benutze ich den Begriff vorsichtig. Oft entwickelt er sich erst in der Rückschau, wenn Betroffene selbst sehen, was sich trotz allem positiv verändert hat. 

Als Psychoonkologe spiegle ich die Aussagen meiner Patient:innen und reagiere mit einer Frage: „Wäre diese Veränderung ohne die Erkrankung auch so passiert?“ Und erstaunlich oft zeigt sich: Auch in einer zutiefst belastenden Situation weht irgendwo ein wohlriechender Hauch von Wachstum und Veränderung. 

Streetart Kopf mit Pflanzen
Auch in einer zutiefst belastenden Situation sind Wachstum und Veränderung möglich. (Foto: Unsplash: Ashkan Forouzani)

Mein eigener Gewinn 

Ich wurde letztens gefragt, wie viel von dem, was ich heute mache, auf der Erkrankung basiert. Die Antwort ist: stabile 90 Prozent. Natürlich war ich vorher schon ich selbst – liebevoll, humorvoll, engagiert. Aber die Möglichkeit, diese Eigenschaften voll zum Ausdruck zu bringen, ist erst durch meine berufliche Rolle als Psychoonkologe und durch meine Arbeit mit „Jung & Krebs“ entstanden. Und ja, du hast’s erraten: All das kam erst nach der “Sintflut” Krebs (oder vielleicht doch “Sinn-Flut). 

Also, habe ich mehr gewonnen als verloren durch meine Krebserkrankung? Ja, ganz klar. Vielleicht denkt nicht jede:r so, aber ich habe lieber sechzig intensive Jahre als neunzig zurückhaltende. Wenn ich auf meine Herkunft schaue – instabiles Familienumfeld, frühe Verluste, emotionale Defizite – sehe ich, wie viel hätte schief gehen können. Die Erkrankung in jungen Jahren hat mir eine Entwicklung ermöglicht, die ich fast nicht für möglich gehalten hätte. Krebs sei Dank habe ich lernen dürfen, was für mich wirklich zählt. 

Quellen & Links: 

Titelbild: Carsten Witte/Kurvenkratzer

Über die Serie

Carstens hautnahe Krebserfahrung im zarten Alter von 24 hat ihn zum Meister der krebsverwandten Gefühlswelt gemacht. 14 Jahre nach seiner Diagnose hilft er als Psychoonkologe jungen wie alten Krebspatient:innen beim psychischen Waschgang. Jetzt auch in geschriebener Form! Das Kurvenkratzer Magazin präsentiert “Carstens Psychoonko-Kolumne” (inklusive schwarzem Humor und hochdosierter Empathie). 

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