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Patient Advocate des Monats
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Wie setzt du dich für uns ein, Anne-Pierre Pickaert?

Sie arbeitete jahrelang im Bereich Krebsprävention und Krebsforschung – dann erkrankte sie selbst. Und überlebte. Heute setzt sich Anne-Pierre Pickaert in Frankreich für die Belange von Krebspatient:innen ein, und will für sie “das Unmögliche” schaffen. Wie sie das macht, und was das mit Mark Twain zu tun hat.

„Patient:in zu sein war bei weitem der härteste Job, den ich je hatte”. So bringt Anne-Pierre Pickaert ihre Erfahrung mit Krebs auf den Punkt. Nicht die berufliche, sondern die persönliche Erfahrung: Bei ihr wurde akute lymphatische Leukämie diagnostiziert, kurz: “ALL”. Sie wusste damals bereits viel über Krebs, immerhin arbeitete sie seit 15 Jahren in französischen und internationalen Krebsorganisationen und Pharmaunternehmen. Doch nun musste sie All-in gehen.

Gesucht: Orientierung

Allerdings: Trotz ihres Vorwissens, ihrer Erfahrung und ihrer Ausbildung hatte sie Schwierigkeiten, die medizinischen Informationen zu verstehen und durch die Komplexitäten des französischen Gesundheitssystems zu navigieren. “Mir wurde klar, wie unglaublich schwer und kompliziert es für andere Patient:innen sein muss, die wenig oder gar kein Vorverständnis für Krebs, Blutkrebs und mögliche Behandlungen haben.”

Anne-Pierre erhielt eine Knochenmarktransplantation – und überlebte. Seither setzt sich die Wahl-Pariserin (sie stammt aus Nordfrankreich) als Patient Advocate für die Belange von Krebspatient:innen in ihrer Heimat ein. Im Kurvenkratzer-Talk erklärt sie, wie sie das macht, und was sie dabei antreibt. 

Über die Serie

Wie setzen “Patient Advocates” sich für die Belange von Patient:innen ein? Im Rahmen unserer Serie „Mit uns statt über uns“ interviewen wir jeden Monat Patient:innenenvertreter:innen aus aller Welt über ihre Arbeit für Betroffene, ihren Einsatz für mehr Mitsprache – und darüber, was sie täglich anspornt, weiterzumachen.

Warum bist du Patient:innenvertreterin geworden?

Ich hatte nie die Absicht, beruflich in der Patient:innenvertretung zu arbeiten. Das hat sich irgendwie an mich herangeschlichen. Drei Jahre nach meiner Transplantation begann ich mich endlich zu erholen. Ich war so dankbar, nach einer derart schlechten Prognose noch am Leben zu sein, dass ich mich freiwillig für die Leukämie-Patient:innenorganisation „Association Laurette Fugain“ und für eine Patient:innenenorganisation für Knochenmarktransplantationen namens EGMOS engagieren wollte.

Mein ursprünglicher Fokus lag darauf, für die Rekrutierung von Knochenmarkspender:innen für das französische Register zu werben, das im Verhältnis zu den Registern in Deutschland, Polen oder Großbritannien enttäuschend klein ist. Dann engagierte ich mich auch freiwillig für ein Projekt zu Komplikationen bei Stammzellentransplantationen.

Schließlich hatte ich das Gefühl, mehr beizutragen, wenn ich professionelle Patient:innenvertreterin bin, mit einem speziellen Fokus auf Themen rund um den Zugang zur Versorgung.

Anne-Pierre Pickaert spricht auf einem Podest ins Mikro.
Patient:innenbeteiligung ist eine gute Sache! Dieses Verständnis will Anne-Pierre stärken. Das bedeutet: Reden, reden, reden - wie hier im Jahr 2019. (Foto: Gil Lefauconnier)

Welche Rolle spielt Patient Advocacy in deinem Land?

„Advocacy” für Gesundheitsthemen lässt sich nicht gut übersetzen. Dabei würde eine präzise Bezeichnung dazu beitragen, dass dieses Konzept besser verstanden wird. Die genaueste Übersetzung ist “plaidoyer pour la santé” („Plädoyer für die Gesundheit“). Das Problem mit „Plädoyer“ ist aber, dass der Ausdruck hauptsächlich für Appelle von Anwält:innen vor Gericht verwendet wird. Deshalb werde ich oft gefragt, ob ich Anwältin bin. Wenn ich erkläre, dass ich die Anliegen von Patient:innen in Gesundheitsdebatten einbringe, werde ich gefragt, ob ich Lobbyistin oder Aktivistin bin.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Wir haben in Frankreich Patient:innenvertreter:innen, aber andere Akteur:innen bezeichnen uns nicht so.

Die gebräuchliche Bezeichnung lautet „Repräsentant:in der Patient:innen“, was für meinen Geschmack nicht proaktiv genug ist. Ich glaube, die Vorstellung, dass Patient:innen die Kompetenz haben, relevante und umsetzbare Veränderungen vorzuschlagen, um Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung zu erreichen, wird in Frankreich noch nicht ausreichend akzeptiert.

Wie änderst du das System?

Bevor wir das System ändern können, müssen wir in bestehenden Foren und bei Diskussionsrunden präsent sein und die Erfahrungen von Patient:innen einbringen. Um das Narrativ zu stärken, dass die Beteiligung von Patient:innen bei gesundheitspolitischen Entscheidungen positiv ist, müssen wir ständig präsent sein und sinnvoll beitragen.

Je mehr du dich einsetzt, desto wahrscheinlicher ist es, gehört und berücksichtigt zu werden.
Anne-Pierre Pickaert
Patient Advocate

„Was du praktizierst, wird stärker“, sagt Shauna Shapiro, eine amerikanische Professorin für Psychologie, über Meditation und Achtsamkeit. Ich glaube, dieses Zitat trifft auch auf die Patient:innenvertretung zu. Je mehr du dich dafür einsetzt, die Erfahrungen der Patient:innen einzubringen, desto wahrscheinlicher ist es, dass deine Beiträge gehört und berücksichtigt werden.

Dafür muss man zuerst die Ausschüsse, Koalitionen und Foren identifizieren, die für die gesundheitspolitische Entscheidungsfindung wesentlich sind. Nach dieser Kartierung sollte man sich gemeinsam mit seiner Community anschauen, welche Organisation bereits in bestehenden Arbeitsgruppen aktiv ist und wie diese sich ergänzen und unterstützen können.

Stell dir vor: Du hast deine Ziele erreicht. Wie sieht die Welt jetzt aus?

Das ultimative Ziel für eine:n Patient:innenvertreter:in ist es, nicht mehr benötigt zu werden. Weil alle Fragen der Gesundheitsfinanzierung und -versorgung gelöst wurden. Ich muss zugeben, es wäre wunderbar, aus diesem Grund den Beruf zu wechseln.

Das ultimative Ziel ist es, nicht mehr benötigt zu werden.
Anne-Pierre Pickaert
Patient Advocate

Es wäre eine Welt, in der alle Patient:innen, unabhängig von ihrem Wohnort und ihren finanziellen Möglichkeiten, gleichen Zugang zur Versorgung hätten. Ich weiß, es klingt utopisch, da die Hürden für die optimale Krebsversorgung weltweit enorm sind. Dennoch hat das Dranbleiben – und auch das Ignorieren mancher Hindernisse – seine Vorteile.

Um es mit Mark Twains berühmten Worten zu sagen: „Sie wussten nicht, dass es unmöglich ist. Also haben sie es getan“.

Weiterführende Links:

Titelfoto: Flavia Raddavero

Über die Serie

Stell dir vor, du hast kein Wahlrecht. Du lebst zwar in einem modernen Staat, doch es gibt niemanden, der oder die deine Interessen vertritt. Sobald du bei Entscheidungen mitreden willst, heißt es: Sorry, das geht nicht. Du bist ja kein:e Expert:in.

So ähnlich könnte man den aktuellen Zustand der Patient:innenvertretung beschreiben. Okay, das Gesundheitssystem ist natürlich keine Diktatur. Tatsache ist aber, dass Patient:innen in vielen Ländern bei wesentlichen Entscheidungen kaum mitbestimmen können.

Genau darum geht es in “Mit uns statt über uns”. In unserer Serie machen wir erfahrbar, warum es dringend mehr anerkannte, professionelle Patient:innenvertretungen braucht. Wir greifen das Thema in aller Tiefe auf. Zeigen Beispiele, blicken in andere Länder, entlarven die Einwände, sprechen über Vorteile und schlagen vor, wie ein Paradigmenwechsel funktionieren könnte.

Mit  dieser Serie verbinden wir zwei Leidenschaften. Wir sind ein Magazin, arbeiten journalistisch und fühlen uns ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Wir sind aber auch Teil von euch, unserer Patient:innencommunity, und wollen mehr Mitsprache. Wir nehmen uns nichts Geringeres vor, als beides zu erreichen.

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