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Das Gesundheitswesen schreibt Tagebuch
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Vorsorgen statt reparieren: Wie Hirnschmalz das Gesundheitswesen entlastet

Das Gesundheitswesen geht zur Darmspiegelung und trifft dort den Experten Jens Ulrich Rüffer, mit dem es sich über Prävention unterhält. Es findet heraus, wie man das Gesundheitssystem entlasten könnte. Nämlich, indem man die Bevölkerung besser über ihre Gesundheit aufklärt.

Was ich diesmal lerne: 

  • Gesundheitskompetenz trägt wesentlich zur Vorbeugung von Krankheiten bei  
  • Shared Decision Making ist ein wichtiger Baustein zur Entlastung des Systems 
  • Das Gesundheitswissen der deutschen Bevölkerung ist nicht gut genug 
  • Prävention bedeutet langfristig Kosteneinsparung 
  • Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln ist ein Schritt zur bewussteren Ernährung 
  • Gesundheitliche Aufklärungskampagnen kommunizieren an der Zielgruppe vorbei 
  • Gesundheitspolitik sollte immer von Patient:innen ausgehend gedacht werden 
  • Krebs und Armut sind ein großes Thema 

Liebes Tagebuch, 

Voller Hoffnung bin ich letzte Woche aus dem LKH Graz stolziert. Der Bettenfahrer Benjamin hat mir die Richtung gen Anfang gewiesen: Vorsorge und Früherkennung. Als ich dann aber realisierte, was das wirklich bedeutet, hat sich meine Hoffnung schnurstracks in Ärger umgewandelt.  

Was bisher geschah:  

Ich, das Gesundheitswesen, bin überlastet und wurde mit Burnout diagnostiziert. Die Psychotherapeutin riet mir, auf Spurensuche nach meinen Stressoren zu gehen. Zuerst habe ich mich mit dem Personalmangel in der Pflege und dem Problem des Föderalismus beschäftigt. Dann hat mir ein freundlicher Bettenfahrer gezeigt, wie grundlegend wichtig auch die “kleineren” Jobs im Gesundheitssystem sind. 

Ich ärgere mich, dass ich mich ärgere. Es war so vermeidbar. Hätte ich doch nur all die Zeichen erkannt. Mein Burnout, er hat sich angebahnt. All meine Stressoren sind doch nur Stressoren, weil ich sie für lange Zeit gekonnt ignoriert habe.  

Hätte ich doch nur den Tatsachen ins Auge geblickt und nicht alle gutgemeinten Innovationen zu utopischem Mumpitz erklärt. Dann hätte ich jetzt dieses Problem der Überlastung nicht. Würden wir kollektiv mehr Vorsorge betreiben und die Probleme früher erkennen, dann müssten wir nicht ständig Krankheiten managen.

Hätte, hätte, Zigarette. Nein! Böses Gesundheitswesen – ja nicht wieder mit dem Rauchen anfangen. Das wäre ja das Mindeste an Vorsorge.

Eine Hand, die die andere Hand davon abhält eine Zigarette zu nehmen.
Wenn man mal geraucht hat, fühlt sich Nichtrauchen ernsthaft wie Vorsorge an. (Illustration: Lena Kalinka)

Apropos Vorsorge, apropos Früherkennung. Dieses Thema hat mich einfach nicht losgelassen. Die große Frage, die sich mir aufdringlich stellt: Wie kommen wir von Sickcare zu Healthcare? Und dann bekomme ich, als wäre es geskriptet, einen Brief, der mich ohne Taktgefühl an meinen heranpreschenden 50. Geburtstag erinnert: “Gehen Sie jetzt zur Darmkrebsvorsorgeuntersuchung”.  

Ja, ja, ja… Die unvermeidliche Darmspiegelung ruft. Ich muss zugeben, dass ich mich in meinem Kamikazeberufsleben weder vorbildlich ernährt noch viel gesportelt habe. Auch meine Therapeutin meinte, es sei wichtig, wieder Verantwortung für den eigenen Körper zu übernehmen, das sei die Basis für meine Wiedergenesung. 

Ach, was soll’s?  

Offenes Notizbuch mit einer To-Do Liste für den heutigen Tag
Ein Akt in drei Teilen. Plus eine schicksalsträchtige Warteraumkonversation. (Illustration: Lena Kalinka)

Der Unterschied zwischen Vorsorge und Früherkennung

Vorsorge dient dem Erhalt der Gesundheit und umfasst alle Möglichkeiten einer gesunden Lebensführung. 

Früherkennung fokussiert sich hingegen auf die Suche nach frühen Stadien bereits eingetretener Erkrankungen und ist wichtig, weil alle chronischen Krankheiten sich mit der Zeit verschlimmern. 

Der Experte im Wartezimmer 

Also habe ich eine abführende Trinklösung in mich reingeschüttet, und das Resultat ins WC des Gastroenterologen meines Vertrauens gespült. Entleert setze ich mich in den halbvollen Warteraum und bemerke einen Mann um die 60 mit schneeweißem Haar und Dreitagebart.  

Er liest ein Prospekt über Vorsorge und Früherkennung. Ich finde ihn sympathisch und versuche mich am Einsatz der Small-Talk-Künste, die mir der Bettenfahrer Benjamin beim Rundgang durch das LKH Graz letzte Woche beigebracht hat.  

“Erste Darmspiegelung?” 

Er schaut mich durchdringend an und sagt nichts. *Peinlichkeitsschweiß* Okay, skip the small talk.  

“Was hältst du von Vorsorge und Früherkennung?” 

“Ich finde Vorsorge und Früherkennung gut, weil das ganze Gesundheitssystem dabei aktiviert wird und man dadurch sieht, was die wahren Probleme sind. Außerdem hat man so nicht nur ein Reparaturverständnis von Medizin, Dinge wie genetische Belastung werden thematisiert. Vor 20 Jahren waren zum Beispiel Mammografiegeräte noch ein großer Schwachpunkt. Heute sind sie deswegen deutlich besser. Kurz gesagt: Ich halte die Qualitätsentwicklung, die mit Früherkennungsmechanismen einhergeht, für sehr relevant.” 

Die Augen der Leute im Warteraum rollen, während meine aufleuchten. Oha, ich bin an einen Experten geraten. Vielleicht weiß der, wie man von Sick- zu Healthcare kommt. 

“Wie heißt du?”, höre ich mich fragen. 

“Mein Name ist Jens Ulrich Rüffer. Ich bin Facharzt für Hämatologie und Onkologie und Pionier auf dem Gebiet der Ärzt:innen-Patient:innen-Kommunikation. ”  

Zwei Hände, die sich schütteln
Ich realisiere langsam, dass ich Verbündete brauche, um mich nachhaltigem Wandel zu unterziehen. (Illustration: Lena Kalinka)

Er streckt mir die Hand entgegen und lächelt so, als hätte er kein Problem damit dieses Gespräch weiterzuführen. *Eifriges Händeschütteln* 

“Ah, toll! genauso jemanden wie dich brauche ich gerade! Ich bin übrigens das Gesundheitswesen.” 

Er schaut mich verwirrt an. Wieso glaubt mir das niemand? 

Auf der nächsten Seite verklickert mir Jens ein paar Lösungsansätze: Wie Wissen zur Vorsorge beiträgt und warum Patient:innen die wichtigste Ressource im ganzen System sind.

Über die Serie

Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.

In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.

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