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Das Gesundheitswesen schreibt Tagebuch
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Liebes Tagebuch! Es geht mir prächtig. Not.

Was, wenn das Gesundheitswesen ein echtes Wesen wäre – mit Gefühlen und Bedürfnissen wie du und ich? Genau: Es wäre überlastet. Burnout. In unserer neuen Serie begibt sich dieses Wesen auf eine Suche nach Lösungen. In diesem Tagebucheintrag beschreibt es, wie seine Odyssee beginnt.

Liebes Tagebuch, 

ich bin müde. So müde. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen habe. Es ist mein Kopf, er macht ständig weiter. Wie eine Maschine, die ich nicht abschalten kann. Und wenn ich doch kurz wegnicke: Unruhige Träume. Gesichter. Patient:innen. Menschen, die an mir verzweifelt sind.  

So geht das jetzt schon eine ganze Weile. Und es ist nicht nur die Müdigkeit, die mich fertig macht. Ich bin verspannt, mein Rücken tut weh, das Herz rast, ich schnappe nach Luft. Zu viel Kaffee, zu viele Zigaretten (unglaublich eigentlich, ich rauche wieder). 

Kurzum: Ich bin ziemlich am Ende.

Aufgeschlagenes Tagebuch, eine Füllfeder schreibt die Worte
"Es ist mein Kopf. Er macht ständig weiter. Wie eine Maschine, die man nicht abschalten kann." Illustration: Lena Kalinka

What the… 

Etwas hat sich verschoben. Was wurde aus meinem Engagement, meinem Einsatz für die Patient:innen? Einst glaubte ich an das Gute; heute besteht mein Leben aus Routine. Hab damals das Leben genossen – heute ist es grau wie ein November in Köln. Früher ließ ich’s mir gut gehen: Ließ mich von renommierten Wirten bekochen, hatte aufregende Affären. Heute? Mein Lieblingsrestaurant heißt Lieferando; befriedigen kann ich mich nicht mal mehr selbst. What the… Was ist nur aus mir geworden? 

Ein Trost ist mir geblieben. Immerhin. Mein Bonsai-Bäumchen: Spät abends schnipsle ich daran herum. Höre dazu laut Nirvana, die Musik meiner Jugend. Bis mein Kopf ganz leer wird. 

Ein Marienkäfer, zu nass um zu fliegen 

Nennen wir das Kind beim Namen. Ich habe einfach keinen Bock mehr. Ich bin 49 und mein Feuer ist erloschen. Ich will mich nicht mehr engagieren. Will nicht mehr müssen: Nicht mehr helfen müssen, nicht mehr zuhören, nicht mehr troubleshooten. Die Erkrankten, die Ärzt:innen, die besorgten Angehörigen, das Pflegepersonal, meine Chef:innen in den Ministerien: Sie nerven mich.

Ihre ständigen Ansprüche, ihre Bitten und Forderungen, die Befindlichkeiten – ich kann sie nicht mehr hören. Fortschritt war eigentlich immer mein Steckenpferd, machte mit bei jedem neuen Scheiß: Pager, Blackberry-Handy, Internet Explorer: Genau mein Ding. Heute interessieren mich solche Sachen nicht mehr. Brülle grundlos Leute an, die mit „innovativen” Lösungen antanzen. “Aber die digitale Revolution hat viele Vorteile…” – Roaaarrr!  

Du merkst es schon: Ich befinde mich im energetischen Zustand eines Marienkäfers, der zu nass ist, um zu fliegen. Time-out. Bitte. Geht aber auch nicht. Oder soll alles zusammenbrechen? 

Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und begibt sich auf Ursachenforschung. Was findet es heraus?

Der Auftrag 

Ich stecke eindeutig in der Zwickmühle. Also habe ich professionellen Rat gesucht. Meine Therapeutin: “Hast du in letzter Zeit mehr gearbeitet als sonst? Kommst nicht mehr zur Ruhe? Hast das Gefühl, dass es viele Aufgaben gibt, die nur DU leisten kannst?” Ihre Fragen: sicher gut gemeint. Aber irgendwie stichelnd, vorwurfsvoll. Als ob ich alles falsch mache. “Fühlst du dich an deiner Arbeitsstelle wertgeschätzt?” Aaahh.

So ging das eine ganze Weile. Schließlich die Diagnose: Burnout, Phase 2. Und ich frag mich bloß: Wann war Phase 1? 

Verdammt. So schlimm also. Und jetzt? Das liest du auf der zweiten Seite!

Über die Serie

Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.

In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.

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