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Mit uns statt über uns
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Mitsprache: Woanders ist das Gras immer grüner

Wusstest du, dass die Einbindung von Patient:innen in Großbritannien verbindlich ist und deutsche Patient:innen zwar mitreden, aber nicht mitbestimmen dürfen? Darum geht es in diesem Artikel, in dem wir auf der Suche nach Inspiration für mehr Mitsprache über die Grenzen blicken. Und somit über unseren Tellerrand.

Du fragst dich, ob du diesen Artikel lesen sollst? Ein klares “ja”, wenn du dich für mehr Mitsprache interessierst. Darum geht’s:

  • Wir nehmen die Patient:innenbeteiligung in Deutschland unter die Lupe 
  • Wir berichten über evidenzbasierte Beteiligung in Dänemark 
  • Wir werfen einen Blick nach Großbritannien, wo Patient:innen Miteigentümer:innen von Krankenhäusern sind 
  • Wir reden mit einer finnischen Expertin 
  • …und Shakespeare kommt auch vor 

Du kennst das sicher: Du ärgerst dich über irgendetwas und sagst voller Inbrunst: “Das ist wieder mal typisch Deutschland/Österreich/Bayern/Berlin! Das würde woanders nie passieren!” 

Dasselbe denken wir bei Kurvenkratzer auch oft, wenn es um das Thema Mitbestimmung und Einbindung von Patient:innen geht. Bei uns ist alles schlecht. In anderen Ländern ist das besser gelöst. Ganz bestimmt!  

Nur: Stimmt das wirklich?  

Zeit für einen Realitätscheck. Was funktioniert woanders besser als bei uns? Was ist inspirierend? Was klappt weniger gut? Dafür haben wir Studien gelesen, im Internet recherchiert und mit Patient Advocates geredet. Die Ergebnisse sind teilweise überraschend. Aber lies selbst. 

Was ist Patient Advocacy? Warum braucht es mehr Mitsprache? In unserer Serie „Mit uns statt über uns“ erfährst du alles darüber.

Deutschland, stabil und gerecht. Oder?

Doch zuerst betreiben wir Nabelschau und nehmen unter die Lupe, was Mitsprache in Deutschland bedeutet. 

Wer hierzulande “Patient:innenbeteiligung” googelt, landet bei G-BA. Nein, das steht nicht für Geologische Bundesanstalt, sondern ist die etwas verhunzte Abkürzung für “Gemeinsamer Bundesausschuss”. Dabei handelt es sich um das höchste Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen. Ohne G-BA geht nichts: Er entscheidet über den Leistungsanspruch der 74 Millionen gesetzlich krankenversicherten Menschen in Deutschland.

Egal ob Arzneimittel, Bedarfsplanung oder Psychotherapie – der G-BA entscheidet, was vergütet wird (und somit für die breite Masse verfügbar ist). Und was nicht.

Grafische Darstellung der Zusammensetzung des Gemeinsamen Bundesausschusses in Deutschland.
Im Kleingedruckten liegt der Hund begraben: Kein Stimmrecht. (Grafik: G-BA).

Was das mit Beteiligung zu tun hat? Ziemlich viel. Denn seit knapp 20 Jahren sind in diesem wichtigen Ausschuss auch Patient:innen vertreten. Insgesamt nehmen rund 300 “unserer” Vertreter:innen in den diversen Gremien teil. Und beraten zum Beispiel darüber, ob eine neue Früherkennungsuntersuchung für Kinder eingeführt wird, ob Frauen eine Kombinationsuntersuchung auf Gebärmutterhalskrebs gewährt wird oder ob eine Fettabsaugung unter bestimmten Umständen von der Kasse bezahlt wird. 

So weit, so gerecht. Dieses Modell der Mitsprache findet auch international Beachtung – nicht zuletzt im Nachbarland Österreich, wo man Patient:innenbeteiligung immer noch mit der Lupe suchen muss. Wir haben darüber im ersten Teil dieser Serie berichtet. 

Mitsprache ≠ Stimmrecht

Doch bevor wir uns auf die Schulter klopfen, lohnt sich ein genauer Blick auf die Rolle der Patient:innen im G-BA. Diese dürfen dort zwar mitberaten und auch Anträge stellen. Aber nicht mitstimmen. Dieses Recht ist den anderen Interessenvertreter:innen vorbehalten, sprich: Den Krankenkassen, den Kassenärzt:innen, Psychotherapeut:innen und Zahnärzt:innen sowie den Krankenhäusern. Die Patient:innen hingegen haben nur das Recht, gehört zu werden. 

Die vermeintliche Mitspracherevolution – bloß ein fauler Kompromiss?  

Wir haben nachgefragt, wie sehr die Patient:innensicht tatsächlich berücksichtigt wird. Und zwar bei Martin Danner – er ist der Sprecher der Patient:innenvertretung im Gemeinsamen Bundesausschuss.  

Porträt von Martin Danner, dem Sprecher der Patient:innenvertretung im Gemeinsamen Bundesausschuss.
"Kein inhaltliches Stimmrecht, sondern ein Stimmrecht in Verfahrensfragen": Martin Danner, Sprecher der Patient:innenvertretung im G-BA. (Foto: B.A.G. Selbsthilfe)

„Im Grundsatz ist die Zusammenarbeit als gut zu bewerten, allerdings gibt es zum Teil natürlich erhebliche Differenzen in den Positionen. Auch das Ausmaß der Berücksichtigung der Positionen der Patient:innenvertretung ist unterschiedlich je nach Unterausschuss und Thema. Traditionell werden unsere Positionen aber durchaus als Kompromissvorschlag aufgegriffen, wenn zwischen den verschiedenen anderen Gruppen (sogenannte „Bänke“) unterschiedliche Auffassungen bestehen.“

„Die Patient:innenvertretung ist inzwischen in allen Arbeitsgruppen und Unterausschüssen vertreten, häufig mit langjährig im G-BA tätigen Vertreter:innen, die meist auch selbst betroffen sind. Dies bedeutet, dass die Erfahrungen der Patient:innen im Gesundheitssystem Eingang in die Beratungen findet. Ob diese sich dann auch wirklich im Beschluss wiederfinden, hängt aber immer auch ganz grundlegend von den Positionierungen der anderen Bänke ab.

„In einem Arbeitsentwurf zum vorgesehenen Gesetz wurde ein (einmaliges) Vetorecht vorgesehen. Dies sehen wir allerdings kritisch, da die Patient:innenvertretung die Versorgung eher voranbringen will, als dass sie die Einführung neuer Ansätze verhindern möchte. Aus unserer Sicht ist aber die Diskussion über eine Verbesserung der Rechte zu begrüßen, wobei die Patient:innenvertretung kein inhaltliches Stimmrecht, sondern ein Stimmrecht in Verfahrensfragen fordert.“  (Anmerkung der Redaktion: Etwa über die Tagesordnung und das Protokoll)

„Aus der Sicht der Patient:innenvertretung wäre es dringend notwendig, die Verbände, die die Patient:innenvertretung tragen, stärker organisatorisch und finanziell zu unterstützen. Gleiches gilt auch für die Sprecher:innen, die erhebliche Zeit in die organisatorische und inhaltliche Begleitung „ihrer“ Unterausschüsse stecken müssen und die eben nur zum Teil über den Verdienstausfall erstattet wird.“

Apropos Ressourcen: Auch wenn es für die Teilnahme im Gemeinsamen Bundesausschuss an Geld fehlt – ganz ohne müssen Selbsthilfegruppen und -organisationen in Deutschland nicht auskommen. Per Gesetz erhalten sie jährlich 1,23 Euro pro Versicherten, somit stehen ihnen in diesem Jahr gut 90 Millionen Euro zur Verfügung. 

Auf der nächsten Seite liest du, was Dänemark besser macht.

Über die Serie

Stell dir vor, du hast kein Wahlrecht. Du lebst zwar in einem modernen Staat, doch es gibt niemanden, der oder die deine Interessen vertritt. Sobald du bei Entscheidungen mitreden willst, heißt es: Sorry, das geht nicht. Du bist ja kein:e Expert:in.

So ähnlich könnte man den aktuellen Zustand der Patient:innenvertretung beschreiben. Okay, das Gesundheitssystem ist natürlich keine Diktatur. Tatsache ist aber, dass Patient:innen in vielen Ländern bei wesentlichen Entscheidungen kaum mitbestimmen können.

Genau darum geht es in “Mit uns statt über uns”. In unserer Serie machen wir erfahrbar, warum es dringend mehr anerkannte, professionelle Patient:innenvertretungen braucht. Wir greifen das Thema in aller Tiefe auf. Zeigen Beispiele, blicken in andere Länder, entlarven die Einwände, sprechen über Vorteile und schlagen vor, wie ein Paradigmenwechsel funktionieren könnte.

Mit  dieser Serie verbinden wir zwei Leidenschaften. Wir sind ein Magazin, arbeiten journalistisch und fühlen uns ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Wir sind aber auch Teil von euch, unserer Patient:innencommunity, und wollen mehr Mitsprache. Wir nehmen uns nichts Geringeres vor, als beides zu erreichen.

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