Mitsprache in der Forschung: Gut gemeint ≠ gut gemacht
Therapien werden besser und zielgenauer, wenn Patient:innen selbst an ihrer Erforschung und Entwicklung mitwirken. Trotzdem ist das noch keineswegs üblich. Wie können wir das ändern?
Dieser Artikel ist für dich, wenn:
- Du dich für mehr Mitsprache interessierst.
- Der Satz „Patient:innen stehen für uns im Mittelpunkt“ deine Alarmglocken schrillen lässt.
- Du verstehen willst, wie Patient:innen und Angehörige konkret an Forschungsprojekten mitarbeiten können.
Die Einbindung von Patient:innen erinnert manchmal ein wenig an den Neujahrsvorsatz vom letzten Jahr: Anfangs sagt man sich „Yes! Das ziehe ich jetzt durch!“ Doch nach einiger Zeit rasselt dein Vorhaben die Prioritätenliste hinunter.
So lässt sich überspitzt der aktuelle Zustand der Mitsprache in Forschungsprojekten zusammenfassen. Zwar hört man seitens der unterschiedlichen Gesundheitsakteur:innen oft und gern den Satz: „Für uns stehen Patient:innen immer im Mittelpunkt“. Wenn es aber darum geht, diese tatsächlich über Forschungsfragen mitbestimmen zu lassen, wird die Luft schnell dünn.
Lanzenbrecherin für Mitsprache
Eine, die ausgezogen ist, das zu ändern, ist Liesa Weiler-Wichtl. In unserem Podcast „Gesundheitsrebell:innen“ bricht sie gleich mehrere Lanzen für mehr Beteiligung. Das klingt so: „Patient:innen weisen eine höhere Zufriedenheit auf, die Lebensqualität wird verbessert, und auch die Compliance [Anm.: Damit ist die Bereitschaft des oder der Patient:in gemeint, an der Therapie mitzuwirken]. Ja, die Evidenz ist da: Die Versorgung wird besser und zielgenauer, wenn wir Patient:innen rechtzeitig einbinden.“
Was ist Patient Advocacy? Warum braucht es mehr Mitsprache? In unserer Serie „Mit uns statt über uns“ erfährst du alles darüber.
Machen wir aber einen Schritt zurück: Liesa ist klinische Psychologin und Forscherin. Von der MedUni Wien wurde sie zur “Innovatorin des Jahres 2023” gekürt. Was sie von vielen Forschenden unterscheidet: Liesa spricht nicht nur über Mitsprache. Sie lebt sie vor.
Gemeinsam mit Carina Schneider, Geschäftsführerin von CCI-Europe und selbst Expertenpatientin, hat sie in einem gemeinsamen Prozess mit Patient:innen eine Art Blaupause entwickelt. Diese zeigt, wie Betroffene konsequent und aktiv in Forschungsprojekte eingebunden werden können. Und zwar von Anfang an.
„Es ist wichtig, konkrete Tools zur Verfügung zu haben, die uns Schritt für Schritt anleiten, Patient:innen über alle Phasen des Forschungsprozesses hinweg zu involvieren“, fasst Liesa das Projekt zusammen.
Bedienungsanleitung für Mitsprache
Gesagt, getan: Ausgehend von einer Initiative durch die Forschungsgruppe COPE Group an der MedUni Wien, gemeinsam mit Patient:innenorganisationen und mit finanzieller Unterstützung der Ludwig Boltzmann-Stiftung hat sie einen Leitfaden für eine besondere Workshop-Reihe entwickelt – für Forschungsteams, Patient:innen und Angehörige sowie Personal aus Medizin, Pflege, dem psychosozialen Bereich und der funktionellen Therapie.
Es ist eine Art Bedienungsanleitung, wie man gemeinsam ein Forschungsprojekt aufsetzt – von der Forschungsfrage über das Studiendesign bis hin zur Durchführung. Disclaimer: Die Kurvenkratzer-Agentur war ebenfalls in dieses Projekt involviert und hat den Workshop-Leitfaden gestaltet (hier geht’s zur Kurzbeschreibung des Projekts).
„Ganz, ganz wichtig war uns, vor allem die frühen Phasen des Forschungsprozesses zu bedienen“, sagt Liesa. Damit meint sie, Patient:innen schon vor Beginn eines Projekts an Bord zu holen. Denn, so erklärt sie: Partizipation finde vergleichsweise öfter statt, wenn Studien schon laufen. Das ist gut und wichtig – doch ein involvieren von Anfang an sollte auch sicherstellen, dass die richtigen Forschungsfragen gestellt werden. Oder anders gesagt: Dass Fragen gestellt werden, die den größten Impact für Betroffene haben.
Genau dafür ist das Workshop-Konzept da: „Um schon sehr früh gemeinsam die Forschungsfragen festzulegen, bevor es überhaupt zum Start der Studie kommt.“
Auf der nächsten Seite erfährst du, warum Pi Pi Ei Ih so wichtig ist.
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Über die Serie
Stell dir vor, du hast kein Wahlrecht. Du lebst zwar in einem modernen Staat, doch es gibt niemanden, der oder die deine Interessen vertritt. Sobald du bei Entscheidungen mitreden willst, heißt es: Sorry, das geht nicht. Du bist ja kein:e Expert:in. So ähnlich könnte man den aktuellen Zustand der Patient:innenvertretung beschreiben. Okay, das Gesundheitssystem ist natürlich keine Diktatur. Tatsache ist aber, dass Patient:innen in vielen Ländern bei wesentlichen Entscheidungen kaum mitbestimmen können. Genau darum geht es in “Mit uns statt über uns”. In unserer Serie machen wir erfahrbar, warum es dringend mehr anerkannte, professionelle Patient:innenvertretungen braucht. Wir greifen das Thema in aller Tiefe auf. Zeigen Beispiele, blicken in andere Länder, entlarven die Einwände, sprechen über Vorteile und schlagen vor, wie ein Paradigmenwechsel funktionieren könnte.
Mit dieser Serie verbinden wir zwei Leidenschaften. Wir sind ein Magazin, arbeiten journalistisch und fühlen uns ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Wir sind aber auch Teil von euch, unserer Patient:innencommunity, und wollen mehr Mitsprache. Wir nehmen uns nichts Geringeres vor, als beides zu erreichen.