10 min
Förderungen für Selbsthilfegruppen
10 min

Außer Spesen nichts gewesen

Von Luft und Liebe allein kann man nicht leben. Oder halt, doch: Patient:innenorganisationen schaffen das. Weil sie müssen: Für ihre Arbeit bekommen sie nämlich wenig bis gar kein Geld vom Staat. In diesem Artikel liest du, warum sich das ändern muss – und wo das schon klappt.

Finanzen? Gääähn. Das ist oft die erste Reaktion, wenn es in einem Artikel um das liebe Geld geht. Genau einen solchen Artikel hast du gerade vor dir – mit Langeweile hat er aber nichts zu tun (versprochen!). Denn: Nach dem Lesen wird dir klar sein, was “Euro” und “Mitsprache” miteinander zu tun haben. Und warum Geld der allergrößte Möglichmacher überhaupt ist.

Du bist hier richtig, wenn du

  • dich schon immer gefragt hast, wer die Selbsthilfe ermöglicht,
  • mit dem Gedanken spielst, selbst Geld für deine Selbsthilfegruppe zu beantragen,
  • nach einer Checkliste dafür suchst,
  • dich fragst, ob du Geld von Big Pharma annehmen sollst,
  • wissen willst, was das alles mit Lottospielen zu tun hat.

Eins steht fest: Hätte Thomas Derntl die Wahl gehabt, er wäre nicht der Obmann einer Selbsthilfeorganisation geworden. Hätte er die Wahl gehabt, wäre er auch nicht an multiplem Myelom erkrankt. Aber er hatte keine Wahl.

Vor zwölf Jahren erkrankte er an diesem relativ seltenen, unheilbaren Krebs des Knochenmarks. So wie jedes Jahr etwa 450 Menschen in Österreich und 7.000+ in Deutschland. Seitdem lebt er mit der Krankheit, so gut es geht. Und hilft auch anderen Betroffenen bei dieser Lebensaufgabe im wahrsten Sinn.

Thomas Derntl ist Obmann von Multiple Myelom Selbsthilfe Österreich.
Arbeitest du gern gratis, Thomas? Du hast die Antwort bestimmt erraten. Trotzdem setzt sich der Obmann von "Multiple Myelom Selbsthilfe Österreich" mit Herz und Seele für seine Patient:innen ein. (Foto: Beigestellt)

Österreich: Luft & Liebe

Was auch feststeht: Hätte Thomas die Wahl, würde er nicht hunderte Stunden pro Jahr ehrenamtlich arbeiten. Das muss er aber. Denn Organisationen wie die “Multiple Myelom Selbsthilfe Österreich” bekommen vom Staat fast keine Unterstützung. Also arbeitet Thomas gratis – wie auch sein gesamtes Team. Weil er zutiefst davon überzeugt ist, dass es die Hilfe, die seine Organisation leistet, dringend braucht.

Thomas Derntl: “Wir begleiten Menschen auf ihrer Patient:innenreise. Und wirken auf deren Verlauf ein, damit es ihnen besser geht.” Wie man sich das vorstellen soll? “Sie vertragen ihre Therapien besser. Sie können dank einfacher Maßnahmen besser mit Nebenwirkungen umgehen, ohne hochpreisige Medikamente nehmen zu müssen. Es gibt so viele Aspekte.

Was ist Patient Advocacy? Warum braucht es mehr Mitsprache? In unserer Serie „Mit uns statt über uns“ erfährst du alles darüber.

Unnoble Zurückhaltung

Im Klartext: Organisationen wie die von Thomas füllen eine Lücke im Gesundheitswesen. Abgegolten wird diese Arbeit jedoch nicht. Zumindest nicht in Österreich – wie es in Deutschland aussieht, liest du auf Seite 2.

Obmann Derntl schätzt den Aufwand seines Vereins auf etwa 6.000 Stunden pro Jahr – davon entfallen allein 2.000 auf Management und Vereinsführung. Der Lohn für diese Arbeit? Genau: Null Euro.

Die öffentliche Hand hält sich nobel zurück. Wir werden beklatscht, uns werden Medaillen verliehen – aber Geld steckt keines dahinter.
Thomas Derntl
Multiple Myelom Selbsthilfe Österreich
Mann hält eine sehr kleine Trophäe.
Ganz toll gemacht, ihr seid unverzichtbar! Das hören Selbsthilfegruppen und Patient:innenorganisationen oft. In Österreich gibt es aber keine Basisfinanzierung für sie. (Foto: Canva/DAPA Images)

Okay, an dieser Stelle müssen wir etwas genauer hinsehen. Denn tatsächlich gibt es staatliche Förderungen für Selbsthilfegruppen. Diese haben aber zwei große Probleme: Die Gesamtsumme, die vergeben wird, ist zu mickrig für die rund 1.700 Selbsthilfegruppen und Patient:innenorganisationen in Österreich.

Und: Das Geld dürfen diese nur für einzelne Projekte verwenden. Nicht aber, um Bürokosten und Gehälter zu bezahlen. Nicht super, wenn man planen will.

So geht Förderung:

Willst du für deine Selbsthilfgruppe eine Förderung beantragen? Mit der Kurvenkratzer-Checkliste bist du für den bürokratischen K(r)ampf gewappnet.

Die Kunst des Antragschreibens

Schaut man sich die Zahlen an, versteht man die Kritik aus der Selbsthilfeszene: Insgesamt vergibt die Österreichische Gesundheitskasse pro Jahr nur 300.000 Euro – für ganz Österreich. Eine zweite Vergabestelle, die Österreichische Kompetenz- und Servicestelle für Selbsthilfe, oder ÖKUSS, vergibt jährlich rund 420.000 Euro; pro Antrag maximal 15.000 Euro.

Der bürokratische Aufwand, um an eine dieser Förderungen zu kommen, ist enorm. “Ich reiche höchstens einen Antrag pro Jahr ein. Das gibt dann ein paar tausend Euro, rein projektbezogen”, sagt Thomas Derntl. In die laufende Organisation, das Management, Büro und Verwaltung fließt hingegen vor allem eins: viel Liebe. Aber kein Geld. Zumindest nicht vom Staat. Wie Thomas Verein dennoch überlebt, liest du am Ende dieses Artikels. 

Wie sieht es in Deutschland aus? Das liest du auf der nächsten Seite. 

Über die Serie

Stell dir vor, du hast kein Wahlrecht. Du lebst zwar in einem modernen Staat, doch es gibt niemanden, der oder die deine Interessen vertritt. Sobald du bei Entscheidungen mitreden willst, heißt es: Sorry, das geht nicht. Du bist ja kein:e Expert:in.

So ähnlich könnte man den aktuellen Zustand der Patient:innenvertretung beschreiben. Okay, das Gesundheitssystem ist natürlich keine Diktatur. Tatsache ist aber, dass Patient:innen in vielen Ländern bei wesentlichen Entscheidungen kaum mitbestimmen können.

Genau darum geht es in “Mit uns statt über uns”. In unserer Serie machen wir erfahrbar, warum es dringend mehr anerkannte, professionelle Patient:innenvertretungen braucht. Wir greifen das Thema in aller Tiefe auf. Zeigen Beispiele, blicken in andere Länder, entlarven die Einwände, sprechen über Vorteile und schlagen vor, wie ein Paradigmenwechsel funktionieren könnte.

Mit  dieser Serie verbinden wir zwei Leidenschaften. Wir sind ein Magazin, arbeiten journalistisch und fühlen uns ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Wir sind aber auch Teil von euch, unserer Patient:innencommunity, und wollen mehr Mitsprache. Wir nehmen uns nichts Geringeres vor, als beides zu erreichen.

Jetzt teilen