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Das Gesundheitswesen schreibt Tagebuch
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Bettenfahrer sind keine kleinen Fische

Es gibt so viele Probleme, dass das Gesundheitswesen nicht weiß, wo es anfangen soll. Durch Zufall begleitet es den Bettenfahrer Benjamin im LKH Graz und wird inspiriert. Eine Reportage über den unterbewerteten Beruf des Bettenfahrers.

Oben angekommen, bin ich erstmal enttäuscht. Kein Anzeichen von einer Rooftop-Bar. Stattdessen ein an brachialem Heuschnupfen leidender Typ von der Dienststelle und sein Kollege. 

Es bietet sich uns eine prächtige Aussicht über die Krankenstadt. Benjamins Blick schweift stolz in die Ferne, als er anmerkt, dass er hier sonst nur hochkommt, wenn der Hubschrauber mit Notfällen anfliegt. “Kategorie A wäre das dann, richtig?”, ergänze ich. Benjamin nickt. “Das sollte ein Gesundheitswesen doch wissen, nicht?”.  Ja. Ja, das sollte es, seufze ich in mich hinein. 

Das LKH Graz von oben.
Eine Stadt in einer Stadt - das LKH Graz ist das größte Klinikum in Europa. (Foto: LKH-Universitätsklinikum Graz)

Benjamin wird ein wenig ernster. Leider kann fast niemand, der hier ankommt, die Aussicht wirklich genießen. Es kommt vor, dass er auch bereits verstorbene Personen transportiert. Das ist Teil des Jobs und er weiß damit umzugehen. Die Männer von der Leitstelle stellen sich zu uns und teilen ihre Weisheit: “Wenn das Buch ausgeschrieben ist, dann ist es ausgeschrieben.” 

Und als sie das sagten, liebes Tagebuch, war mir plötzlich glasklar, mein Buch fängt erst an. 

Wozu das Gesundheitswesen da ist

Der Bettenfahrer Benjamin hat mich inspiriert. Er erwähnte ja das Personalmangelproblem und lieferte sogleich die Lösung. Wer eine Person rekrutiert, bekommt eine Prämie ausgezahlt. Genau! Kreative Lösungsansätze braucht es. Wie konnte ich das vergessen? Ich bin hier zum Problemlösen! Funktionieren ist eine Sache, Weiterentwicklung eine gänzlich andere. Ich habe mich immer gegen Innovation gestellt, aber ich merke, dass sich die Innovation langsam gegen mich stellt. So geht das nicht weiter. 

So stand ich da also und sah auf das emsige Treiben der Krankenstadt hinab, während sich mein inneres Durcheinander langsam in kohärente Gedanken ummünzte. Zum ersten Mal seit wirklich langer Zeit hatte ich wieder Weitsicht, konnte die Richtung zumindest in der Ferne erahnen. 

Porträt Benjamin
Der Bettenfahrer Benjamin hat Small Talk ziemlich gut drauf. (Foto: Lena Horvath. Illustration: Lena Kalinka)

Benjamin zeigte in diese Ferne. Ich folgte seinem Finger und erblickte einen Bettenfahrer, der eine etwa 50-jährige Frau im Rollstuhl spazieren fuhr. Sie ließ ihr Handy fallen. Der Bettenfahrer beugte sich vor und… 

“Das ist es, das ist es! Vorbeugung!!! Das hätte gar nicht passieren müssen. Verstehst du, Benjamin? Wenn man klug vorsorgt, wird diese Frau gar nicht erst krank und lässt auch nicht ihr Handy fallen. Danke, Benjamin, danke!” 

Und so, liebes Tagebuch, wurde mir klar, wo ich anfangen sollte: Am Anfang. Noch bevor überhaupt jemand krank wird. Ich bin ja schließlich ein Gesundheitswesen und kein Krankheitswesen! 

Bettenfahrer Krankenstadt
Mit 1.484 Ärzt:innen, rund 7.800 Angestellten und 1.556 Betten ist das Universitätsklinikum Graz das größte Klinikum in Europa. (Illustration: Lena Kalinka)

Was ich diesmal gelernt habe?

  • Mein Buch fängt erst an.
  • Es braucht innovative Ansätze, um Personalmangel zu lösen.
  • Das Gesundheitssystem könnte mehr Weitsicht vertragen.
  • Bettenfahrer sind extrem wichtige kleine Fische, ohne die das Ökosystem Krankenhaus nicht funktionieren würde.
  • Ich will Smalltalk lernen.
  • Benjamin ist supercool.
  • LKH Graz is fkn huge.
  • In der nächsten Episode geht es um Vorsorge.

Quellen & Links:

Dieser Artikel ist unter Mitarbeit von Chiara Repolusk entstanden.

Titelbild: Lena Kalinka/Lena Horvath

Über die Serie

Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.

In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.

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