12 min
Das Gesundheitswesen schreibt Tagebuch
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Bettenfahrer sind keine kleinen Fische

Es gibt so viele Probleme, dass das Gesundheitswesen nicht weiß, wo es anfangen soll. Durch Zufall begleitet es den Bettenfahrer Benjamin im LKH Graz und wird inspiriert. Eine Reportage über den unterbewerteten Beruf des Bettenfahrers.

Patiententransport: Personalmangel & Prämien

Benjamin öffnet eine Tür mit der Aufschrift “Entsorgung”, kommt mit einem Rollstuhl wieder heraus und meint daraufhin, dass er dafür oft Umwege machen muss. “Bist du zufrieden?”, platzt es aus mir heraus. “Ich meine, magst du deinen Job?”

Nach kurzem Überlegen nickt er. Der Job sei sehr abwechslungsreich. Das liebe er am meisten. Ansonsten ist es sehr entspannt: Ein paar Nachtdienste pro Monat, bessere Bezahlung als bei seinem vorigen Job als Sanitäter, Dienstplan weit im Voraus, man begegnet sich auf Augenhöhe mit anderen und er arbeitet sehr selbstständig

Benjamin steht vor einem Bett in einem Raum mit geschlossenen Vorhängen.
Der Job des:der Bettenfahrer:in scheint unterbewertet zu sein. (Foto: Lena Horvath)

“Keine Probleme?”, hake ich nach, im Unglauben daran, hier eine Oase im Gesundheitssystem gefunden zu haben. Doch, doch, meint er. Mist. Sie hätten zu wenig Personal. Gerade während der Sommermonate, wegen des allseits anstehenden Urlaubs. Dann sind da noch die Pensionierungswellen und der vermehrte Wunsch nach Teilzeitanstellungen. Aha. Das Problem besteht also nicht nur in der Pflege

Benjamin erzählt weiter, während wir einen jungen Mann abholen, der auf sein Handy schaut. Er scheint eine Operation hinter sich zu haben.  

Die Krankenhausleitung würde versuchen, mit Prämien gegenzusteuern. Wer eine Person rekrutiert, bekommt einen Bonus. Ein Kollege hat so schon drei Personen angeworben. Außerdem könne man jetzt auch die Ausbildung vor Ort machen, direkt im Krankenhaus. Neun Leute konnten so bereits geangelt werden. Daraufhin seufzt er. Ich ahne warum. Trotz all der Bemühungen bleibt die Personallage weiterhin prekär. Nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa.  

Richtungsweiser auf einer Tür zum Zentralen Patiententransport
Der ZPT besteht aus lauter kleinen Fischen, ohne die das Ökosystem Krankenhaus nicht funktionieren würde. (Foto: Lena Horvath. Illustration: Lena Kalinka)

Respekt vor dem sozialen Aspekt

Benjamin fängt an, mit dem jungen Mann zu quatschen, und das mit ausgeprägtem steirischen Akzent. „Jau, wie fühlst‘ di? Waus is‘n passiert?” Benjamin ist locker und herzlich. Seine zugängliche Art lässt den Endzwanziger sichtlich entspannen. Augenblicklich erzählt er, wie es zu den Knochenbrüchen gekommen ist. Autounfall beim Familienurlaub in Ägypten. Autsch. 

Für den Rest des Weges witzeln sie in einem fort. Bis auch er seine Destination findet. Benjamin, im Gegensatz zu mir, tut sich leicht mit dem Smalltalk. Auch wenn ihm nur ein paar Minuten für den Transport bleiben, versucht er mit den Patient:innen zu reden. Es passiert auch, dass er die erste Person ist, mit dem viele nach einem Eingriff reden.  

Da ist Feinfühligkeit gefragt. Manchmal funktioniert das mehr, manchmal weniger. Beispielsweise wenn die Narkose sie noch in mentalen Nebel hüllt. Auf die Frage, wie es der Person geht, kommt dann meist nur ein „ahhfngpf“ zurück. Verständlich. 

Unten wie oben: Untergrund & Aussicht

Ein weiteres Mal steigen wir in das fahrende Zimmer namens Aufzug, diesmal geht es abwärts. Kurz zuvor hatte ich Benjamin an meiner Bewunderung für seinen Orientierungssinn teilhaben lassen. Mit einem Grinsen fügte er bei, dass das LKH-Universitätsklinikum Graz das größte Klinikum in Europa sei. Der Beweis läge unter der Erde.  

Unten angekommen, merke ich, dass er damit keine Leiche meinte. Stattdessen tuckert uns ein süßes Automobil entgegen. Benjamin bemerkt trocken, das sei der Schlepper. “Schleppt er Patient:innen ab? Ist das denn erlaubt?” Ich will glucksen, aber dann realisiere ich, wie schlecht der Witz ist, und das Gelächter bleibt mir im Hals stecken. Benjamin erwidert zum Glück nichts. Als stellvertretende Antwort brummt der Schlepper vorbei. Er zieht eine Kabine auf Rädern hinter sich her. Darin ein Patient im Bett. Der zuständige Bettenfahrer sitzt hinter ihm und genießt die kleine Auszeit.  

Der Schlepper zieht einen Anhänger durch die Gänge des LKH
Patient:innen abzuschleppen ist im LKH Graz erlaubt. Vorausgesetzt, man verwendet dafür den Schlepper. (Foto: Lena Horvath)

Benjamin meint, die Schlepper fahren meist die älteren Kollegen, damit sie nicht übermäßig viele Kilometer zu Fuß abspulen müssen. Er selbst schleppt auch manchmal ab, oder fährt mit dem Elektromobil, wenn er Blutproben transportiert. 

Wäre das Bett nicht, würde mich die Szene an Flughafen erinnern. Ich schaue ihnen nach, während sie der schier endlose Tunnel verschluckt. Benjamin meint, dass beachtliche sechs Kilometer lange Gänge mehrere Gebäude verbinden. Er bestätigt meinen Eindruck von der Krankenstadt, das Gelände misst insgesamt beachtliche 60 Hektar.  

“Willst du dir das Ganze von oben anschauen?” 

Ich nicke eifrig. Ein Überblick würde mir wirklich guttun. Und ein Drink. Ja, das wär’s. 

Auf dem nächstseitigen Dach werde ich von der Aussicht inspiriert.

Über die Serie

Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.

In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.

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