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Vanessa Eichholz
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„Als Kind konnte ich mir kein Leben danach vorstellen“

Erkrankt ein Elternteil an Krebs, wird die Welt von Kindern in ihren Grundfesten erschüttert. Wie es ihr damals persönlich ergangen ist und wie sie heute selbst hilft, erzählt Vanessa Eichholz, Botschafterin der Pink Kids.

Vanessa ist 13, färbt sich rote Haare, trifft sich mit ihrem ersten Freund und ist genervt von den Eltern. Vielen Teenagern geht es ähnlich. Vanessa hat allerdings auch ein schlechtes Gewissen. Sie weiß, dass sie sich zusammenreißen muss und möglichst nett zu ihrer Mutter sein sollte. Ihre Mama hat Brustkrebs.

Aus der Sicht von Kindern sind Eltern immer da. Sie sind die Eckpfeiler des Universums und sie zu verlieren kommt im jungen Weltbild nicht vor. Im Fall einer Krebserkrankung in der Familie sind Kinder und Jugendliche plötzlich gezwungen, mit existenziellen Bedrohungen klarzukommen, die heutzutage ein Tabu sind.

Alte Aufnahme einer Frau mit Kind im Badezimmer.
Vanessa als Kind, als der Brustkrebs der Mutter noch in weiter Zukunft lag. Foto: Privat

Wenn die Eltern doch nicht immer da sind

„Auf der einen Seite habe ich rebelliert“, sagt Vanessa Eichholz über ihre Zeit als Teenager, „auf der anderen Seite war meine Mutter aber krank.“ Der Gewissenskonflikt ist unausweichlich, wenn sie mit neuer Haarpracht vor der Mutter steht, die gerade von der Chemotherapie nach Hause kommt.

Mitten in den hormonellen Umschwung schwappen der Haarverlust der Mutter und die Angst vor dem Verlust wie Flutwellen ins Kinderleben. „Wenn die Gefahr da ist, dann wird einem der Schutzfaktor und das Urvertrauen weggenommen“, sagt Vanessa. Neben der Wut über die unwirkliche Situation entsteht aber auch ein neues Bemühen.

In Deutschland leben in einer von drei Familien, in der ein Elternteil von Krebs betroffen ist, minderjährige Kinder, schätzt die Stiftung Deutsche Krebshilfe. Älteren Zahlen zufolge sind etwa 200.000 Kinder und Jugendliche mit einer Krebserkrankung in der Kernfamilie konfrontiert. Im Verlauf der Krankheit haben ungefähr ein Drittel davon mit psychischen Problemen zu tun.

Mag. Jutta Steinschaden von der Österreichischen Krebshilfe Wien ist sich der großen Anspannung für angehörige Kinder und Jugendliche bewusst. „Es muss nicht alles erzählt werden“, sagt die Klinische und Gesundheitspsychologin, „aber was gesagt wird, muss stimmen.“ Es wäre fatal, Kinder anzulügen, denn sie bekämen in jeder Altersstufe mit, dass etwas nicht stimmt und getuschelt wird. Werden Kinder nicht einbezogen, erlitten sie einen Vertrauensverlust und bezögen das Problem auf sich selbst. „Auch Vierjährige haben das Recht auf Information.“ Nachgrübeln koste ihnen unnötige Energie.

„Information schützt“, appelliert Steinschaden, denn „die Kinderfantasien sind oft viel ärger.“ In ihrer Beratung erzählt sie betroffenen Eltern, wie die Kommunikation in anderen Familien gut funktioniert hat. Das Kind frage sich immer, welche Auswirkungen die Erkrankung auf das eigene Leben habe und ob es selbst erkranken könnte. „Die Krankheit muss in jedem Fall beim Namen genannt werden: Krebs“, sagt Steinschaden. Verklausuliert von einem „Weh-weh“ zu sprechen wäre fahrlässig und eventuell folgenschwer für die Kinder. Und Eltern sollten klarmachen: „Niemand ist schuld!“

„Über den Tod haben wir nicht gesprochen“

Vanessas Mutter übersteht die Ersterkrankung. Jahre später, Vanessa ist bereits als Schauspielerin tätig, kommt der Krebs zurück. „Wir haben beim ersten Mal nicht über den Tod gesprochen, und auch beim zweiten Mal nicht wirklich, da es immer ein Tabuthema für uns war“ – aus Angst, etwas Falsches zu sagen.

Bei den abendlichen Spaziergängen redet sie dennoch offen mit ihrer Mutter und spricht ihr Mut zu. Obwohl die Situation schlimm ist, ist sie von einem guten Gefühl erfüllt. „Ich dachte immer, dass sie das schafft“, und das sagt sie ihr auch. „Vielleicht war das nur mein kindliches Urvertrauen“, urteilt Vanessa, aber der Mutter hilft der positive Zugang.

Junge Frau mit ihrer Mutter, die einen Sauerstoffschlauch trägt.
Vanessa mit ihrer an Brustkrebs erkrankten Mutter im Spital. Foto: Privat

Mehr Offenheit wäre gut

Die Teenagerin Vanessa fühlt sich oft mit ihrer Familiensituation und ihren Sorgen um Mama alleine. Stets spürt sie, wie auch der Rest der Familie, den Elefanten im Raum, die drückende Stimmung ob der Bedrohung, aber geredet wird trotzdem nur selten. „Weil niemand jemanden verletzen will.“ Auch in der Schule wird geschwiegen.

„Mit dem Thema Krebs habe ich mich wie eine Außenseiterin gefühlt, weil es sonst keine Betroffenen gab.“ Lehrer*innen hätten eine Spur weniger streng sein können, sagt Vanessa, wenn sie ihre Hausaufgabe nicht mithatte, weil sie bei der Mutter im Spital war. Da aber niemand Bescheid weiß, gibt es auch kein Mitgefühl. „Es ist wichtig, dass gerade an Schulen Offenheit herrscht, um Kindern und Jugendlichen Halt zu geben.“

„Bevor man gar nichts sagt, sollte man immer irgendetwas sagen.“
Vanessa Eichholz

„Mittlerweile gibt es ein gut funktionierendes Netz, das schulpflichtige Kinder und Jugendliche in Krisen auffängt“, berichtet Christiane Allsteiger (Name von der Redaktion geändert), Beratungslehrerin in Niederösterreich. In den vergangenen zehn bis 15 Jahren sei die Sensibilität für die sozial-emotionale Befindlichkeit und Anforderungen erhöhter Natur unter den Lehrer*innen wesentlich gestiegen.

„Bei Krebsfällen in der Familie sind die Klassenvorstände meist informiert“, schildert Allsteiger ein erhöhtes Bewusstsein, das Tabu Krebs in der Schule zu brechen. Außerdem würden bei Verhaltensauffälligkeiten immer Beratungslehrer*innen einbezogen. „Dann kommen wir im Gespräch mit den Eltern meist sehr schnell drauf.“

Drei Frauen bei einer Podiumsdiskussion.
Vanessa Eichholz als Krebsaktivistin und Botschafterin der Pink Kids bei der YES!CON 2020 in Berlin. Foto: Peter Müller

Wie Vanessas Familie mit der Krebserkrankung umgegangen ist und warum sie heute als Botschafterin der Pink Kids agiert, kannst du auf der nächsten Seite lesen.

Über die Serie

Stark sein? Runterschlucken? Das Schicksal ertragen? Wir von Kurvenkratzer bekommen latenten Brechreiz, wenn wir derartige Sprüche hören. Und warum flüstern wir, wenn wir über Krebs reden? Ja, Krebs ist in unserer Gesellschaft leider noch immer ein Tabu. Studien zufolge trifft aber jeden zweiten Menschen im Laufe seines Lebens eine Krebserkrankung. Krebs ist also alles andere als eine gesellschaftliche Nische.

In unseren Interviews sprechen wir mit Menschen, die Krebs am eigenen Leib erfahren haben oder nahe Betroffene sind. Wir reden mit ihnen über den Schock, den Schmerz, Hilfe zur Selbsthilfe, Humor und Sexualität, sowie darüber, wie es gelingt, Mut und Hoffnung zu finden. Damit möchten wir dich motivieren: Wenn du das Gefühl hast, über deine Erkrankung sprechen zu wollen, dann tu es. Du bist nicht allein.

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