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Alleinerziehend und Krebs: Als ob ein Knoten nicht reicht

Führt der Glaube, alles allein schaffen zu müssen, in die Sackgasse? Als Alleinerziehende sind bei Julia Keita Doppelbelastungen an der Tagesordnung – und dann kommt noch Brustkrebs dazu. Wie gelingt es, Krebs zu akzeptieren und Hilfe anzunehmen? Wir reden mit ihr über ihre Krebserkrankung, die Kampfmetapher und Feminismus, und was sie am Leben hält.

Julia Keita sitzt vor dem Elternhaus am Land, trägt Sonnenbrille und braunen Lederhut mit breiter Krempe. Sie ist frischgebackene Jägerin. Ihr Sohn schaut vorbei, Pause beim Homeschooling in Pandemiezeiten. Seit acht Jahren ist sie alleinerziehend und hält es nicht mehr aus, 30 Stunden oder mehr pro Woche vor dem Computer zu sitzen. Das war aber nicht immer so.

Fröhliche Frau in einem weißen Kleid mit Sonnenbrille.
„Früher habe ich immer alles ausgegeben, was ich verdient habe“, sagt Julia Keita. „Für ein gutes Leben, oder was ich dachte, was gut ist.“ Foto: Privat

2017 arbeitet sie als Art Director in einer Werbeagentur in Wien und ist daneben auch noch freiberuflich tätig. Die Herausforderung, alles allein schaffen zu müssen, ist riesig – aber sie ist es gewöhnt und sogar überzeugt davon. Plötzlich stürzt das Kartenhaus zusammen: Depression mit Burnout-Symptomatik. Sie lässt sich krankschreiben, geht in Therapie, nach zwei Monaten hat sie wieder alles im Griff.

Da fällt ihr im Bad ein ungewöhnlicher Schatten im oberen Brustbereich auf. Sie ertastet einen Knoten. „Wird wohl nur eine Zyste sein“, vermutet ihr Frauenarzt. Die Abklärung zieht sich. Eine Woche vor Weihnachten erhält sie die Diagnose: zweifacher Brustkrebs, ein HER2-positiver Knoten und ein klitzekleiner Hormonrezeptor-positiver Knoten unter der Brust. „Es dauerte einige Tage, bis diese arge Nachricht sickerte“, erzählt Julia.

Tumoren der Brust (auch „Knoten“ genannt) werden mit molekularbiologischen Untersuchungen in verschiedene Typen eingeteilt, mit dem Ziel einer individuellen und maßgeschneiderten Therapie. Folgende Biomarker sind für die Unterscheidung von Brustkrebs nach aktuellem Stand der Forschung relevant:

  • Hormonrezeptor-Status (HR): Östrogenrezeptor-positiv (ER+) und/oder Progesteronrezeptor-positiv (PgR+)
  • HER2-Rezeptor-Status
  • Proliferationsmarker KI-67

Daraus ergibt sich folgende Einteilung von Brustkrebs-Erkrankungen:

  • luminal A (HR-positiv, Her2-negativ, Ki-67 niedrig)
  • luminal B (HR-positiv, Her2-negativ, Ki-67 hoch)
  • HER2-Subtyp (HER2-positiv)
  • triple negativ (HER2-negativ, HR-negativ)

Mit genetischen Tests ist darüber hinaus feststellbar, ob Genmutationen vorliegen, die Auslöser für erblichen Brustkrebs sein können (BRCA-1- und BRCA-2-Gen).

Kein „Kämpfen gegen den Krebs“

Die Weihnachtsferien kurz nach der Diagnose sind geprägt von Schmerz und Trauer. Es wird viel geweint. Die Familie, ihre Mutter und die zwei Brüder, sowie ihr 7-jähriger Sohn fangen sie aber auf. Sie lassen sich den Spaß nicht nehmen. „Wir lachten und spielten irrsinnig viel, redeten aber auch intensiv über den Krebs.“

„Ich fasste schnell den Mut und den Willen, mich dem Brustkrebs zu stellen und die Krankheit anzunehmen.“
Julia Keita

Im Gespräch mit engen Freund:innen fällt der alleinerziehenden Mutter auf, dass sie von „Das schaffst du locker“ und „Du bist eh die volle Kämpferin“ sprechen, was ihr gar nicht zusagt. „Das Vokabular war geprägt vom Kampf und Krieg gegen das, was mich befallen hat“, erinnert sie sich. Krebs habe aber nichts damit zu tun, sich zu wehren oder zu kämpfen, sondern zuzulassen. „Ich habe der Krankheit die Möglichkeit gegeben, mir etwas zu zeigen“, sagt Julia.

Frau mit Kind, beide tragen Sonnenbrillen.
„Wenn ich kein Kind gehabt hätte“, sagt Julia Keita, „wüsste ich nicht, ob ich so strikt nach schulmedizinischem Therapieplan vorgegangen wäre.“ Foto: Privat

Kontra Glücksspiel

„Ich wollte die Chemotherapie so schnell wie möglich beginnen“, sagt Julia, „obwohl ich früher eher kontra Schulmedizin war.“ Die Meinung der jungen Mutter ändert sich durch die Konfrontation mit dem Sterben. Noch vor dem Jahresende findet die erste Behandlung statt. „Ich wollte kein Glücksspiel eingehen“, sagt sie, „ich wollte meinem Kind und mir zuliebe alles gegen den Krebs unternehmen.“

Julias größte Herausforderung ist das Gespräch mit ihrem Kind. „Wir haben uns schnell in der Familie geeinigt, dass wir den Krebs klar ansprechen.“ Gleichzeitig gibt sie ihrem Sohn eine Perspektive. „Brustkrebs ist eine schlimme Krankheit, aber die Medizin ist schon sehr weit.“ Sie vermittelt ihm, dass sie diese Krise gemeinsam bewältigen werden, dass alles gut ausgehen wird.

Schwarzweißaufnahme einer Frau mit zwei Kindern im Wald.

Foto: Pixabay/Victoria Borodinova

Wie du das Gespräch mit deinen Kindern gestalten kannst, wenn du selbst an Krebs erkrankt bist, haben wir in „Krebserkrankt als Elternteil – So sagst du es deinen Kindern“ und „Do’s and Don’ts: Wie rede ich mit Kindern über Krebs?“ zusammengefasst. Auch Bücher können eine Hilfe sein. Mehr dazu in „Krebs kindgerecht erklärt: Die besten Kinderbücher zu Krebs“.

Mit Meditation gegen die Panikattacken

Wegen des psychischen Zusammenbruchs wenige Monate vor der Krebsdiagnose ist die alleinerziehende Mutter bereits in psychotherapeutischer Behandlung. „Ich hatte viel Glück“, erzählt Julia. „Jahrelang hatte ich das Bedürfnis, ein Mal pro Woche eine Stunde Zeit zu haben, um über mich zu reden, ohne mich ständig zwischen Kindererziehung und Job beim Duschen selbst zu analysieren.“ Sie wusste aber nie, wie sie sich das leisten sollte.

„Dann bekam ich einen Kassenplatz bei einer sehr lieben Therapeutin.“ In den Doppelsitzungen, bestehend aus Gesprächstherapie und Körperarbeit, lernt Julia viel über sich selbst, und auch meditieren. „Davor hatte ich ärgste Panikattacken“, erzählt sie. „Die Meditationen haben sehr geholfen in dieser Zeit.“ Zusätzlich werden ihr Antidepressiva verschrieben. Die Krebsdiagnose trifft sie daher in einer relativ gestärkten Verfassung.

Julia mit ihrer Familie im Naturhistorisches Museum in Wien.
Julia Keita mit der Familie im Naturhistorischen Museum: „Ich lernte während der Krebstherapie, Menschen für mich da sein zu lassen.“ Foto: Nicole Viktorik

Selbermachsyndrom therapieren

„Während der Chemo konnte ich nichts tun.“ Julia ist nach den Medikamentengaben vier bis fünf Tage wie ausgeknockt. „Ich bin nur gelegen, Kochen haben meine Mutter und eine Freundin übernommen.“ Ihre Mutter wohnt unterdessen bei ihr und bringt ihren Sohn in die Schule. „Ich konnte nicht anders, als Hilfe anzunehmen“, erzählt sie. Dennoch ist es weiterhin schwierig für sie, aber sie bemerkt: „Ich darf das auch.“

„Ich muss nicht alles alleine stemmen.“
Julia Keita

Nach der ersten Erholungsphase kann Julia wieder Sport machen. Trotz der belastenden Therapie genießt sie diese Lebensphase. „Die Jahre davor waren geprägt von Arbeiten, Karriere und Kind“, sagt sie. „Jetzt hatte ich Zeit mit meinem Sohn und für mich selbst.“ Die Chemotherapie schlägt an, der Knoten im oberen Brustbereich ist danach nur noch 2-3 mm groß und wird operativ entfernt. Der Zweite ist weg. „Wäre der Krebs sieben Jahre früher aufgetreten, hätte die Prognose nicht gut ausgesehen“, zitiert sie ihren Arzt. Die Antikörpertherapie bei Brustkrebs sei mittlerweile weit fortgeschritten. „Ich fühle ziemliche Dankbarkeit.“

Schwarzweißaufnahme einer Frau in einer Kapuzenjacke.
Julia Keita: „Wenn keine Hilfe aus meinem Umfeld fruchtete, halfen mir die Meditation und meine Therapeutin.“ Foto: Nicole Viktorik

Welche Folgen der nächste Zusammenbruch für Julia mit sich bringt, und wie sie ihr Leben ändert, liest du auf der nächsten Seite.

Über die Serie

Stark sein? Runterschlucken? Das Schicksal ertragen? Wir von Kurvenkratzer bekommen latenten Brechreiz, wenn wir derartige Sprüche hören. Und warum flüstern wir, wenn wir über Krebs reden? Ja, Krebs ist in unserer Gesellschaft leider noch immer ein Tabu. Studien zufolge trifft aber jeden zweiten Menschen im Laufe seines Lebens eine Krebserkrankung. Krebs ist also alles andere als eine gesellschaftliche Nische.

In unseren Interviews sprechen wir mit Menschen, die Krebs am eigenen Leib erfahren haben oder nahe Betroffene sind. Wir reden mit ihnen über den Schock, den Schmerz, Hilfe zur Selbsthilfe, Humor und Sexualität, sowie darüber, wie es gelingt, Mut und Hoffnung zu finden. Damit möchten wir dich motivieren: Wenn du das Gefühl hast, über deine Erkrankung sprechen zu wollen, dann tu es. Du bist nicht allein.

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