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Alleinerziehend und Krebs: Als ob ein Knoten nicht reicht

Führt der Glaube, alles allein schaffen zu müssen, in die Sackgasse? Als Alleinerziehende sind bei Julia Keita Doppelbelastungen an der Tagesordnung – und dann kommt noch Brustkrebs dazu. Wie gelingt es, Krebs zu akzeptieren und Hilfe anzunehmen? Wir reden mit ihr über ihre Krebserkrankung, die Kampfmetapher und Feminismus, und was sie am Leben hält.

Seite 2/2: Der große Wendepunkt in Julias Leben steht trotz überstandener Krebserkrankung noch aus.

Bis es gar nicht mehr geht

„Ich habe versucht, am Leben von vor der Krebserkrankung anzuschließen“, erzählt Julia, „nur besser, noch hipper, noch kreativer.“ Sie wechselt das Unternehmen, wieder Werbebranche, aber jetzt eine kleine feine Design-Agentur. Doch auch nach dem Krebs stürzt die alleinerziehende Mutter jeden Herbst in dasselbe Loch. Ein psychischer Zusammenbruch mit Burnout-Symptomen folgt auf den nächsten. „Es ist so ein Ding bei mir, so lange zu tun, bis es gar nicht mehr geht“, sagt Julia, „aus ärgsten Existenzängsten heraus“.

Sie versucht, dem Warum auf den Grund zu gehen. Warum sie? Warum erkrankt gerade sie an Krebs? Liegt es an den jährlichen psychischen Krisen, an der Unvereinbarkeit von Alleinerziehung und beruflicher Karriere, an der Scheidung vom Vater ihres Sohns? Oder am Raubbau am eigenen Körper? „Ich war mir sicher, dass der Knoten im Jahr davor entstanden sein muss“, sagt sie, „weil ich da so richtig Highlife und exzessiv unterwegs war.“

Feierlich gekleidete Frau mit Glas in der Hand.
Julia Keita: „Früher habe ich impulsiv, von einem Tag auf den anderen gelebt. Heute habe ich das Bedürfnis nach einer stabilen Basis.“ Foto: Privat

Der Grund für den Krebs

Das bespricht Julia auch mit ihrem ärztlichen Team. „Mein Onkologe sagte darauf“, erzählt sie, „die erste entartete Zelle entstünde zwischen fünf und sieben Jahren, bevor der erste Knoten tastbar sei.“ Sie rechnet nach und vermutet, dass der Einschlag der frühe und plötzliche Tod ihres Vaters gewesen sein könnte. „Aber trotzdem ist das nur ein Faktor von vielen auf dem Weg der Entstehung von Krebs.“

„Ich mag es nicht, wenn jemand sagt, ich sei die klassische Kandidatin für Krebs, weil ich so viele Probleme habe.“ Es sei vielmehr eine Sache von „eins, zwei, Tick“, sagt sie und deutet mit dem Zeigefinger ein Auszählspiel an. „An zwei potentiellen Patient*innen geht der Krebs vorbei“, sagt sie. „Bei der dritten Person passen die Faktoren zusammen – und dann geht die Bombe hoch.“

Warum habe ich Krebs?

Eine Frage, die wahrscheinlich jede Krebspatientin und jeden Krebspatienten beschäftigt.

Aufmerksame Kurvenkratzer-Leser*innen wissen: Häufigste Risikofaktoren für Krebs sind Rauchen, Alkohol, ungesunde Ernährung und zu wenig Bewegung. 30 bis 50 Prozent aller Krebserkrankungen seien laut WHO darauf zurückzuführen. Die wirklichen Gründe sind trotzdem stark von der Tumorart abhängig. Bei manchen Krebsarten spielen genetische Faktoren, Vorerkrankungen oder HPV-Infektionen eine Rolle.

Die in den 1970er-Jahren weit verbreitete Meinung einer „Krebspersönlichkeit“ (ausschließlich psychische Gründe, warum Krebs entsteht) ist mittlerweile widerlegt. Die individuelle Entstehung von Krebs ist (noch) nicht eindeutig nachvollziehbar, sondern nur Zufall, großes Pech. Schuldgefühle bringen jedenfalls nicht weiter.

Back to the roots?

Dass die Bombe bei Julia hochging, habe wohl viel mit Stress zu tun gehabt. „Von Alleinerziehenden werden doppelt so viele Ressourcen gezogen, als von einem Elternpaar, das die Erziehungsarbeit aufteilen kann.“ Sie dachte immer, dass sie als Frau die gleichen Chancen hätte, wie ihre Brüder. Deshalb habe sie sich bis zur Mitte ihrer 20er nicht mit Feminismus auseinandergesetzt.

Das Scheitern ihrer Ehe habe ihre Meinung geändert: „Die Grundvoraussetzungen für Frauen und Männer sind in unserer Gesellschaft komplett unterschiedlich.“ Dennoch möchte sie nicht als Opfer oder Verliererin angesehen werden. „Ich bin durch das Netz der Familie gut aufgefangen worden“, sagt sie. Der Staat müsse Alleinerziehenden aber mehr helfen, finanzielle Unterstützung habe sie nur von der Österreichischen Krebshilfe erhalten.

Falknerin mit Adler, der auf ihrer Hand landet.
„Alleinerziehende haben keinen Spielraum, sich selbst zu verwirklichen“, sagt Julia Keita. „Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre eine riesengroße Erleichterung.“ Foto: Privat

Die Beschäftigung damit, wie unsere Gesellschaft lebt, habe ihren Entschluss gefestigt, ihr Leben zu verändern. Sie verlässt die schöne große Wohnung in der Nähe des Wiener Yppenplatzes und zieht mit ihrem Sohn aufs Land. „Der Baustein Natur war immer schon wichtig bei mir“, sagt sie, „er ist meine Basis.“ Heute hat sie den Jagdschein in der Tasche, möchte Falknerin werden und baut den Dachboden im Elternhaus aus. „Ich suche einen Teilzeitjob, wo ich etwas angreifen kann, meinen Körper einsetzen, draußen, im Wald, oder auch in einem Bioladen.“

Die Wertschätzung der Krise

Der Krebs habe ihr Leben auf eine extreme Weise verändert. „Der Wunsch, mich umzuorientieren, die Jobveränderung, die Falknerei“, sagt Julia, „ankert in der Krebserfahrung.“ Ihre Krisen möchte die Alleinerziehende nicht missen. „Ich habe viel gelernt über mich durch die Zeit, die ich mit mir selbst hatte.“ Trotz der finanziellen Existenzängste ist sie froh, Mutter zu sein. Die Entscheidung zur Therapie hätte sie sonst wohl länger hinausgeschoben.

„Wer weiß, ob ich ohne Sohn noch leben würde.“
Julia Keita

Verglichen mit der Julia kurz vor der Krebserkrankung gehe es ihr heute „extrem gut“. „Ich bin stolz auf meine Entscheidungen, bin reifer geworden und nicht mehr so viel im Außen“, sagt sie. „Zwar bin ich immer noch voller Erwartungen“, sie rückt ihren braunen Lederhut zurecht, „aber prinzipiell zufrieden mit dem Jetzt, mit dem Ist.“

Schwarzweißaufnahme einer Frau mit Kind in der Stadt.
Julia Keita: „Ich habe einerseits das Bedürfnis nach sicherem Boden, aber möchte zugleich das Wagnis eingehen, zu verändern.“ Foto: Nicole Viktorik

Quellen:

Zum Weiterlesen:

Akuthilfe für psychische Notfälle:

Titelfoto: Nicole Viktorik

(Veröffentlicht am 8.6.2021, aktualisiert am 22.12.2021)

Über die Serie

Stark sein? Runterschlucken? Das Schicksal ertragen? Wir von Kurvenkratzer bekommen latenten Brechreiz, wenn wir derartige Sprüche hören. Und warum flüstern wir, wenn wir über Krebs reden? Ja, Krebs ist in unserer Gesellschaft leider noch immer ein Tabu. Studien zufolge trifft aber jeden zweiten Menschen im Laufe seines Lebens eine Krebserkrankung. Krebs ist also alles andere als eine gesellschaftliche Nische.

In unseren Interviews sprechen wir mit Menschen, die Krebs am eigenen Leib erfahren haben oder nahe Betroffene sind. Wir reden mit ihnen über den Schock, den Schmerz, Hilfe zur Selbsthilfe, Humor und Sexualität, sowie darüber, wie es gelingt, Mut und Hoffnung zu finden. Damit möchten wir dich motivieren: Wenn du das Gefühl hast, über deine Erkrankung sprechen zu wollen, dann tu es. Du bist nicht allein.

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