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Das Gesundheitswesen schreibt Tagebuch
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Wiedereingliederung: Ist das ein WIETZ?

Das Gesundheitswesen kehrt zu früh zur Arbeit zurück und findet auf die harte Tour heraus, was Scheitern bedeutet. Es lernt die “Wiedereingliederungsteilzeit” (kurz: WIETZ) und das Hamburger Modell kennen – und kommt zu einer überraschenden Erkenntnis.

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Montag: Super. Oder?

Auf dem Papier scheint WIETZ wie DIE Lösung meines Wiedereingliederungsproblems. Aber wie sieht es in der Praxis aus? 

Ich beschließe, eine alte Bekannte nach ihrer Erfahrung zu fragen. Martina Hagspiel hat Krebs überlebt. Später wurde sie Patient Advocate – sie tritt also für die Belange von Patient:innen ein. Und hat “Kurvenkratzer” gegründet, ein Magazin für Krebsbetroffene (Memo an mich: Vielleicht sind meine Tagebucheinträge ja mal interessant für eine Veröffentlichung dort?).  

Martina, wie hast du die Rückkehr zur Arbeit nach dem Krebs erlebt?  

“Die Wiedereingliederung in Österreich ist nach wie vor mangelhaft geregelt. Sie ist nicht vorbereitet auf die geringe Konzentrationsfähigkeit, die fehlende Kraft und die niedrige Belastbarkeit nach vielen Monaten Krankenstand”, fetzt Martina mir um die Ohren.

Okay. 

Nicht super.

Sie ist noch nicht fertig: “Der Zeitraum für die Wiedereingliederung ist für viele Erkrankungen, speziell nach Krebs, zu kurz. Das führt dazu, dass viele Patient:innen zwangsläufig scheitern und in die Frühpension flüchten.”  

Dann berichtet sie, wie sie das persönlich erlebt hat: “Anfangs dachte ich mir: Jetzt ist alles geschafft! OP, Chemo, Bestrahlung. Alles vorbei. Ab nun geht es aufwärts. Doch wenige Wochen später war ich verwirrt. Dann irritiert. Irgendwann verzweifelt. Mein Körper war alt geworden. Ich war einfach überfordert. 

Kommt mir bekannt vor, denke ich. Schäme mich dann aber gleich – Krebs spielt doch in einer anderen Liga als mein Burnout.  

Das Hamburger Modell steht Modell.
Das Hamburger Modell macht eine gute Figur. (Illustration: Lena Kalinka)

Dienstag: Das Hamburger Modell aus München

Heute setze ich meine Recherchen fort. Wie kann die Wiedereingliederung in den Beruf nach langer Krankheit besser funktionieren?  

Ich stolpere immer wieder über einen Begriff: Hamburger Modell. Da ich gerade Hunger habe, denke ich natürlich gleich an die kulinarischen Errungenschaften gewisser Fastfoodketten, doch du hast es sicher schon erraten: Darum geht es jetzt nicht. Vielmehr handelt es sich um das deutsche Gegenstück zur österreichischen WIETZ.  

Auch Arbeitnehmer:innen in Deutschland haben ein Recht auf eine ganz besondere Leistung der medizinischen Rehabilitation: die stufenweise Wiedereingliederung, eben nach dem sogenannten “Hamburger Modell”.  

Dabei wird die tägliche Belastungsgrenze schrittweise und unter ärztlicher Anleitung ausgelotet. Wichtig zu verstehen ist, dass es hier wirklich um eine Reha geht, die nur nicht in einer Kurklinik, sondern eben in einem Betrieb stattfindet. Sie wird daher auch von deiner:deinem Ärzt:in angeordnet. Anders als in Österreich bekommst du während deiner stufenweisen Eingliederung dein volles Krankengeld ausbezahlt. 

Fun Fact zum Hamburger Modell: Es stammt gar nicht aus Hamburg, sondern anscheinend aus München. Das Hamburger aka “Münchener” Modell wird in Deutschland schon seit den späten Achtzigerjahren praktiziert. 

Mittwoch: Ein Alptraum

Heute Nacht hatte ich einen Alptraum. Ich lief durch eine enge Schlucht, ich war auf der Flucht. Ich sah mich um und sah hinter mir eine Menschenmasse auf mich zu laufen. Es waren meine Kolleg:innen, so viele, dass sie die gesamte Schlucht ausfüllten. Mit wutentbrannten Gesichtern kamen sie immer näher, sie hatten Formulare und Dokumentmappen in der Hand. Alle mit demselben Titel: “Wiedereingliederung”. Dann stolperte ich und… wachte auf. 

Schwitzend setze ich mich vor den Computer und recherchiere weiter. Für eine 2021 veröffentlichte Studie wurden Betroffene befragt, wie sie die Rückkehr an den Arbeitsplatz erlebten. Wie ging es den Leuten dabei?  

Szene aus einem Traum, in dem viele Kolleg:innen dich verfolgen.
Eher kein gutes Zeichen, wenn du in deinen Träumen von einer wilden Kolleg:innenmeute verfolgt wirst. (Illustration: Lena Kalinka)

Naja, durchwachsen.

Zwar hat den meisten der Kontakt mit den Kolleg:innen gutgetan (anders als mir). Und fast die Hälfte gibt an, dass ihnen die Arbeit beim Umgang mit der Krankheit geholfen hat. Zugleich berichten 59 Prozent von großer Anstrengung und Erschöpfung und 44 Prozent geben an, sie hätten sich unter Druck gesetzt gefühlt, wieder arbeiten zu gehen.  

Es kam zu Problemen wegen mangelnder Flexibilität bei den Arbeitsstunden, wegen kommunikativer Verletzungen bei der Rückkehr (“Und, wie war der lange Urlaub? Zwinkersmiley!”), wegen schlechter Erfahrungen mit Vertretungen und Unsicherheiten, was die eigene Belastungsgrenze betrifft – um nur die wichtigsten zu nennen.  

Finanziell ist eine lange Krankheit sowieso eine Art Supergau: Für fast die Hälfte der Befragten hat sich die finanzielle Situation verschlechtert, bei 18 Prozent sogar massiv. Entsprechend stark ist bei vielen der Wunsch nach Unterstützung: beim Umgang mit Behörden, den Kranken- und Rentenkassen, aber auch beim Meistern der finanziellen Probleme. Doch diese Art der Unterstützung gibt es derzeit kaum. 

Freitag: Alte Schule

Irgendetwas stört mich an der Studie. Nicht die Studie selbst, die ist hilfreich. Aber wenn ich mir die Antworten der Befragten anschaue, kommt mir die Situation an den Arbeitsplätzen irgendwie oldschool vor. So starr und unflexibel. 

Dann kommt es mir. Ist unser Arbeitsmodell wirklich noch zeitgemäß? Ich habe gelesen, dass vor allem jüngere Menschen gar kein Interesse mehr haben, wie ihre Eltern im ewigen Hamsterrad namens “Job” zu laufen, mit dem Ziel, den Kredit für Haus und Auto abzuzahlen.  

Neue Arbeit

Heute ist “New Work” angesagt. Ein Job, hinter dem man steht. Und der sich mit dem restlichen Leben gut vereinbaren lässt. Und das besteht eben nur zum Teil aus Arbeiten. Stattdessen steht die Sinnfrage im Mittelpunkt. Die Grenzen zwischen Leben und Arbeiten verschwimmen im Alltag auf produktive Weise, lese ich.  

Überrascht stelle ich fest: Macht doch Sinn! Genau dieses Arbeitsmodell würde auch Rückkehrer:innen nach Krebs und anderen langwierigen Krankheiten die Wiedereingliederung erleichtern! 

Bei diesem Gedanken schäme ich mich gleich wieder. Vor meinem Burnout war ich selbst noch ein Verfechter von “nine to five”. Meine Devise: Nur nicht zu viel ändern. Never change a running system und so.  

Ein Schmetterling namens
Goodbye, nine to five! New Work ist wie ein Schmetterling, der seinen zu eng gewordenen Kokon verlässt. (Illustration: Lena Kalinka)

Ja, ich will!

Aber ich spüre tief in mir, dass ich mich weiterentwickelt habe. Ich bin zwar noch nicht am Ziel, aber ich weiß jetzt: So wie die Arbeitswelt sich weiterdreht, will auch ich mich wirklich verändern. Ja, ich will!  

Zwar habe ich noch nicht DIE Lösung für alle Probleme gefunden. Aber ich bin wieder etwas zuversichtlicher geworden (mein Kaktus anscheinend auch: Er sieht wieder viel besser aus). Eine bessere Zukunft scheint möglich zu sein. Auch wenn der Weg dorthin voller Hindernisse ist. 

Aber um die kümmere ich mich morgen wieder. Nur nicht wieder zu schnell zu viel.  

Das habe ich gelernt:  

  • Ich weiß jetzt, dass Wiedereingliederung nicht einfach ist. 
  • Es gibt staatliche Unterstützung: In Österreich heißt sie WIETZ, in Deutschland Hamburger Modell (müsste aber eigentlich Münchner Modell heißen). 
  • Betroffene berichten trotzdem, dass die Wiedereingliederung immer noch mangelhaft geregelt ist und zu wenig Rücksicht nimmt auf ihre Lebensrealität. 
  • Befragungen zeigen auch: Es gibt weiterhin große Probleme für Rückkehrer:innen. 
  • On the bright side: Die Arbeitswelt verändert sich. Hallo New Work!

Links und Quellen:

Die Produktion dieses Artikels wurde von Pfizer Corporation Austria, Wien unterstützt, unter Wahrung der redaktionellen Unabhängigkeit. [PP-UNP-AUT-0495/01.2024; www.pfizer.at].

Titelillustration: Lena Kalinka

Über die Serie

Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.

In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.

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