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Das Gesundheitswesen schreibt Tagebuch
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Pflegekrise oder Krisenpflege?

Was, wenn das Gesundheitswesen ein Mensch wäre – mit Gefühlen und Bedürfnissen wie du und ich? Genau: Es wäre überlastet. Komm mit auf unsere Gedankenreise und begleite das Gesundheitswesen bei der Suche nach sich selbst – und nach Lösungen für die Zukunft.

Martina, alles gut in der Pflege?

An diesem Tag ist sie etwas gehetzt, redet schnell, hat wenig Zeit. Was sie mir erzählt, ist zunächst mal cool, lässt mich aufatmen. Als Cancer Nurse übernimmt Martina eine Schlüsselrolle in der Pflege von Krebspatient:innen, und das Konzept ist echt gut durchdacht, wie ich finde: “Wir begleiten Patient:innen sehr nah. Nicht nur in der direkten Pflege: Wir unterstützen sie auch beim Symptommanagement und beim Selbstmanagement. 

Man kann sich eine Cancer Nurse als eine Art Knotenpunkt vorstellen, erklärt sie weiter: Da das Gesundheitswesen sehr fragmentiert ist, haben Patient:innen ganz unterschiedliche Berührungspunkte mit ihm. (Es braucht Knotenpunkte? Mit mir?) Doch nicht alle Informationen werden weitergegeben, behauptet sie – hier werde ich kurz hellhörig. Höre ich da leise Kritik raus? Ich reagiere aber erstmal nicht darauf. Don’t fish for it. Martina weiter: “Die Cancer Nurse ist eine Konstante, bei uns können Patient:innen andocken. Sodass sie immer jemanden haben, der oder die sie kennt, ihre Geschichte kennt, die Fäden zusammenführt.”  

Ist doch toll, finde ich: Martina und ihre Kolleg:innen als Garant für Kontinuität. Kluges Konzept. Ich hatte auch nichts anderes erwartet. Von wegen Pflegekrise.

Illustration: Bleistift und Papier.
"Ich weiß nicht, ob das Tagebuchschreiben mir hilft. Aber besser als gar nichts." Illustration: Lena Kalinka

Was ich nicht wusste:

Martina fährt fort. Wir haben aber ein Problem”, sagt sie. “Denn Cancer Nurses haben weder eine rechtliche Verankerung noch einen Titelschutz.” Ungeklärt ist auch die Frage: Was muss man eigentlich können, damit man Cancer Nurse wird? Das ist anscheinend nicht so genau festgelegt, zumindest nicht in Österreich. Von deiner Ausbildung hängt aber ab, was du darfst und was davon rechtlich abgedeckt ist, erklärt Martina mir. 

“Das größte Problem ist, dass die Kompetenzen in der Pflege noch immer sehr eingeschränkt sind. Wir dürfen immer noch keine Verordnungen schreiben, keine Überweisungen, nichts.”  

Moment, denke ich mir. Sollte das nicht sowieso eher ein:e Ärzt:in machen? Ich google das mal. Und bin überrascht: Anscheinend doch kein klarer Fall. In anderen Ländern ist es längst üblich, dass Pflegefachkräfte Medikamente verschreiben dürfen.  

Damit man nicht immer auf eine Ärztin warten muss. Zum Beispiel, wenn ein:e Patient:in rasch Anti-Emetika benötigt – Medikamente, die Krebsbetroffene gegen Übelkeit erhalten. Oder andere Arzneimittel. Laut einer Studie aus dem Jahr 2019 war das Pflegekräften damals bereits in 13 europäischen Ländern erlaubt. Bis heute aber nicht auf der Länderliste: Deutschland und Österreich. 

Martina bringt es nochmal auf den Punkt:

Das ist ein Riesenproblem. Ich habe sehr qualifizierte Leute, die gut ausgebildet sind, aber ich lasse sie ihre Kompetenz nicht leben. Das frustriert. Und das ist einer der Gründe, warum viele hochqualifizierte Leute überlegen, ob sie überhaupt in diesem Beruf bleiben.
Schriftzug:
Mir fehlen die Worte, Alter. Illustration: Lena Kalinka

Okay, denke ich mir. Guter Punkt. Da können wir sicher noch nachschärfen. Aber rechtfertigt das die Aufregung wegen einer Pflegekrise? Rhetorische Frage, Antwort steht fest.

Ich will schon auflegen, doch Martina ist noch nicht fertig. Und ich muss zugeben: Während sie erzählt – von ihren Erfahrungen aus mehr als 20 Jahren in der Pflege, von ihrem Arbeitsalltag in einem großen Krankenhaus, von dem, was sie in der Interessensvertretung für “Advanced Practice Nurses” mitbekommt, für hochqualifizierte Pflegeexpert:innen also, die in anderen Ländern mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet sind –, fange ich an zu zweifeln. Vielleicht läuft doch nicht alles ganz so rund, wie ich dachte. 

Auf der letzten Seite liest du, warum.

Über die Serie

Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.

In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.

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