Dein Joker im Krebsgame
Wenn du Krebs hast, stehst du mit lebenswichtigen Entscheidungen oft ziemlich allein da. Es fehlt an maßgeschneiderter Hilfe – obwohl Studien zeigen, wie wichtig der flächendeckende Einsatz von Cancer Nurses und Onkolots:innen wäre. Warum ist das so, und wie lässt sich das ändern?
Krebs. Schock. Was jetzt?
Vor dieser Frage stehen jedes Jahr 43.000 Menschen in Österreich. So viele neue Krebsdiagnosen gibt es, wobei Männer etwas häufiger betroffen sind als Frauen. Sie alle gehören zur wachsenden Gruppe der Menschen, die mit einer Krebserkrankung leben müssen – Ende 2020 waren dies in Österreich insgesamt 384.883 Personen.
Soweit die Statistik. Die erklärt jedoch nicht, was die Diagnose emotional auslöst. Und welche Entscheidungen plötzlich getroffen werden müssen. Entscheidungen, von denen dein Überleben abhängt. Wie sich das anfühlt, wissen die meisten Kurvenkratzer-Leser:innen aus eigener Erfahrung. Scheiße.
Was ist Patient Advocacy? Warum braucht es mehr Mitsprache? In unserer Serie „Mit uns statt über uns“ erfährst du alles darüber.
Odysseus sucht Lots:in
Wie du als Betroffene:r damit umgehst, ist natürlich sehr individuell und hängt auch von deinem Umfeld ab: Familie, Partner:innen, Freund:innen. Menschen, die dich auffangen und unterstützen. Und von dir: Sprichst du offen über deine Sorgen? Holst du dir Hilfe? Informierst du dich über die Therapiemöglichkeiten?
Das klingt jetzt so, als wärst nur du persönlich dafür verantwortlich, wie du die Situation managst. In Wirklichkeit sind viele überfordert. Und wünschen sich Hilfe bei ihrer Odyssee durch Behandlung und Gesundheitswesen. Doch die fehlt auch im Jahr 2024 noch weitgehend. Aus unserer Community hören wir immer wieder, dass Betroffene sich in ihrer Not im Stich gelassen fühlen.
Muss das wirklich sein? Wie lässt sich das ändern? Diese Fragen versuchen wir in diesem Artikel zu beantworten.
Nur für einige Glückliche
Gleich vorweg: Das Problem ist nicht neu. Und es gibt bereits Lösungsansätze dafür. Sie nennen sich “Cancer Nurses” (Österreich) und “Onkolots:innen” (Deutschland) und zielen darauf ab, Patient:innen durch die Behandlungs- und Versorgungsangebote zu navigieren und auch emotional zu unterstützen. Das Problem nur: beide Ansätze werden derzeit nicht flächendeckend angeboten, sondern nur sporadisch. Nur wenn du Glück hast, kannst du die Angebote also in Anspruch nehmen.
Machen wir einen Schritt zurück. Wie helfen Angebote wie diese Krebspatient:innen eigentlich konkret? Das hat uns Cancer Nurse Martina Spalt bereits in unserer Serie “Das Gesundheitswesen schreibt Tagebuch” erzählt: “Wir begleiten Patient:innen sehr nah. Nicht nur in der direkten Pflege: Wir unterstützen sie auch beim Symptommanagement und beim Selbstmanagement.”
Man kann sich eine Cancer Nurse als eine Art Knotenpunkt vorstellen: Da das Gesundheitswesen sehr fragmentiert ist, haben Patient:innen ganz unterschiedliche Berührungspunkte damit.
Die Sache mit der Kopfwehtablette
Martina Spalt hat im selben Artikel aber auch die Grenzen geschildert, an die das Konzept stößt. Dazu gehört, dass die Kompetenzen in der Pflege noch immer sehr eingeschränkt sind. “Wir dürfen immer noch keine Verordnungen schreiben, keine Überweisungen, nichts.” Überspitzt formuliert darf eine Cancer Nurse einer Patient:in nicht einmal eine Kopfwehtablette geben.
Was das betrifft, hinken Österreich und Deutschland international hinterher: Wie diese Studie zeigt, hat ausgebildetes Pflegepersonal in vielen anderen europäischen Ländern weitaus mehr Befugnisse – die bei uns weiterhin exklusiv den “Gött:innen in Weiß” vorbehalten sind. Den Ärzt:innen also.
Das größte Problem jedoch ist die geringe Verbreitung von Cancer Nurses. Das Konzept steckt noch in den Kinderschuhen, wobei das Kind noch nicht einmal zu laufen begonnen hat.
Die Forderung
Darauf wiesen im Juni 2023 auch renommierte Krebsexpert:innen hin, als sie bei einer Pressekonferenz gemeinsam für die Etablierung des Berufsbilds Cancer Nurse eintraten. Angeführt von Professor Wolfgang Hilbe, dem ehemaligen Präsidenten der österreichischen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie, forderten sie dabei die Festschreibung von Cancer Nurses im Österreichischen Strukturplan Gesundheit. Das ist das zentrale Planungsinstrument für die integrative Versorgungsplanung in Österreich.
Sprich: Cancer Nurses sollen Krebsbetroffene nicht nur sporadisch, sondern flächendeckend begleiten. Du ahnst es sicher schon: Davon sind wir immer noch weit entfernt. Es fehlt die gesetzliche Grundlage.
Das Gesetz
Dabei sieht das Sozialversicherungsgesetz (§143b ASVG) genau genommen sogar vor, dass Menschen bei schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen durch das Gesundheits- und Sozialsystem begleitet werden. In welcher Form diese Unterstützung angeboten wird, ist aber nicht im Detail angeführt.
In der Praxis gibt es in einigen Bundesländern sogenannte Case Manager:innen der Sozialversicherung. Sie geben Tipps zu möglichen Antragstellungen oder informieren über Institutionen und medizinische Einrichtungen, mit denen Versicherte Kontakt aufnehmen können. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um die medizinische und auch emotionale Begleitung, wie sie etwa Cancer Nurses bieten.
Studienweisheit
Übrigens wäre eine breite Einführung einer professionellen Betreuung durch Cancer Nurses oder Onkolots:innen (dazu gleich mehr) auch aus therapeutischer Sicht sinnvoll. Darauf deutet eine Studie in den USA hin, bei der das Konzept der “Patient Navigation” für sozial benachteiligte Brustkrebspatient:innen untersucht wurde. Das Ergebnis: Dank der Betreuung wurden die Frauen öfter leitliniengerecht behandelt.
Okay. Wir wissen jetzt: In Österreich gibt es noch viel zu tun, bis die professionelle Begleitung von Krebspatient:innen flächendeckend umgesetzt wird.
Und in Deutschland? Das liest du auf der nächsten Seite.
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Über die Serie
Stell dir vor, du hast kein Wahlrecht. Du lebst zwar in einem modernen Staat, doch es gibt niemanden, der oder die deine Interessen vertritt. Sobald du bei Entscheidungen mitreden willst, heißt es: Sorry, das geht nicht. Du bist ja kein:e Expert:in.
So ähnlich könnte man den aktuellen Zustand der Patient:innenvertretung beschreiben. Okay, das Gesundheitssystem ist natürlich keine Diktatur. Tatsache ist aber, dass Patient:innen in vielen Ländern bei wesentlichen Entscheidungen kaum mitbestimmen können.
Genau darum geht es in “Mit uns statt über uns”. In unserer Serie machen wir erfahrbar, warum es dringend mehr anerkannte, professionelle Patient:innenvertretungen braucht. Wir greifen das Thema in aller Tiefe auf. Zeigen Beispiele, blicken in andere Länder, entlarven die Einwände, sprechen über Vorteile und schlagen vor, wie ein Paradigmenwechsel funktionieren könnte.
Mit dieser Serie verbinden wir zwei Leidenschaften. Wir sind ein Magazin, arbeiten journalistisch und fühlen uns ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Wir sind aber auch Teil von euch, unserer Patient:innencommunity, und wollen mehr Mitsprache. Wir nehmen uns nichts Geringeres vor, als beides zu erreichen.